Märchensommer (German Edition)
Zehenspitzen schlich ich rüber und versteckte mich hinter dem Vorhang, dann lugte ich vorsichtig hinaus.
Da war niemand. Doch am hinteren Ende des Balkons wehten weiße Seidenvorhänge durch den Rahmen einer offenen Tür aus und ein—einer Tür, die genauso aussah wie meine.
Na toll. Teilten sich Julian und ich etwa den gleichen Balkon? Irgendwie hatte Marie wohl vergessen, diese unbedeutende Kleinigkeit zu erwähnen. Wenn ich mich nicht total irrte, war Julian gerade dabei gewesen, mir einen weiteren Überraschungsbesuch abzustatten. Mein aufgeregtes Herumtollen hatte ihn wohl verschreckt. Oder er zeigte einfach nur Anstand, wer weiß. Der Mann war für mich undurchschaubar.
Wie auch immer, ich sollte mir schleunigst etwas anziehen. Als mich das letzte Mal ein Junge nackt gesehen hatte, humpelte er anschließend mit einem gebrochenen Zeh und einem blauen Auge aus dem Mädchen-Duschraum—mit freundlichen Grüßen von meiner Faust.
Mein Körper hatte seither einige Kurven entwickelt und Julian war echt der Letzte, dem ich einen exklusiven Blick darauf gewähren wollte.
Ich holte meinen Rucksack aus dem Kleiderschrank und wühlte darin nach Unterwäsche, die ich blitzschnell anzog. Als Nächstes holte ich ein fades graues T-Shirt heraus, doch da fiel mir wieder der Haufen Kleider ein, den mir Marie vorhin per Boten hatte bringen lassen und der immer noch auf meinem Bett gestapelt war. Selbstverständlich würde ich Julians Rat, meine eigenen Sachen zu verbrennen, nicht befolgen, doch es konnte nicht schaden, einmal einen Blick auf Leihgaben meiner Tante zu werfen. Vielleicht konnte ich mir ja tatsächlich etwas borgen, nur für heute natürlich. Wenn ich mich morgen davonstehlen würde, brauchte ich ihre Sachen nicht mehr.
Marie war sehr großzügig mit ihrer Spende gewesen. So viele schöne Klamotten hatte ich noch nie zur Auswahl gehabt. Jede Menge langärmelige und kurzärmelige Shirts in verschiedensten Farben und Mustern lagen vor mir ausgebreitet. Nachdem ich jahrelang immer die gleichen Jeans und Sweater getragen hatte, kam es mir vor, als hätte ich gerade eine Schatzkiste ausgegraben.
Ich nahm ein T-Shirt nach dem anderen hoch und hielt es mir vor dem Spiegel an die Brust. Wow, was machten Leute nur mit so viel Luxus? Vorsichtig faltete ich die Kleider und räumte sie alle in den Schrank. Nur ein schwarzes T-Shirt mit V-Ausschnitt ließ ich draußen und zog es über.
Marie hatte mir außerdem Hosen und Röcke spendiert. Bei der Affenhitze in Frankreich war eine abgeschnittene Jeans mit Fransen gerade recht. Überraschenderweise passten die Klamotten wie angegossen, obwohl die ausgefransten Jeans nur wenig mehr als meinen Hintern bedeckten. Für meinen Geschmack betonte auch das T-Shirt meine Figur, besonders meine Brüste, ein wenig zu sehr, doch das ließ sich leicht kaschieren, indem ich mein langes Haar mit meinen Fingern über meine Schultern nach vorn kämmte.
Eine ganz neue Jona stand nun vor mir im Spiegel. Doch das Ungewöhnlichste an mir war in diesem Moment das glückliche Grinsen, das breit auf meinen Lippen saß.
Hey, halt mal. Hatte ich echt gerade das Wort „glücklich“ verwendet? Nein, konnte nicht sein. Marie und ihre Familie hatten sie wohl nicht alle, wenn sie dachten, sie könnten mich mit einem hübschen Zimmer und netten Klamotten einwickeln. Ich gehörte nicht hierher. Und was noch viel wichtiger war, ich wollte gar nicht hier sein. Keiner konnte mich dazu zwingen. Auch nicht ein glatzköpfiger, alter Richter mit Holzhammer.
Es war nichts daran auszusetzen, einen Tag in diesem Traumschloss zu genießen, doch morgen war ich weg. Basta.
Der altmodische runde Wecker neben meinem Bett zeigte kurz vor sechs an. Das Abendessen würde gleich fertig sein. Ich warf noch einen letzten Blick hinaus auf den Balkon, wobei ich Acht gab, ja nicht hinauszusteigen. Das unsichere Holzgerüst fünf Meter über dem Boden rief mir meine Höhenangst deutlich zurück ins Gedächtnis. Doch von hier aus hatte man einen fantastischen Blick über die Weingärten und ich lehnte meinen Kopf verträumt gegen den Türrahmen.
Julians Tür stand auch immer noch offen. Von ihm war allerdings weit und breit nichts zu sehen. Ich atmete tief durch, um meine Nerven für das bevorstehende Abendessen mit meiner Familie inklusive dem Drachen zu stählern, kehrte den Weinbergen dann den Rücken und ging zur Tür. Als ich sie aufmachte, entfuhr mir ein Schreckensschrei.
Julians Faust kam geradewegs auf meine
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