Märchensommer (German Edition)
gewünscht. Aber auch einen Jungen dazu. Die Fliesen in Julians Bad sind weiß und hellblau.“
Das machte mich neugierig. Waren Julians und mein Zimmer völlig identisch? Ich hielt es für besser, nicht danach zu fragen. Schließlich sollte sie nicht denken, dass ich in irgendeiner Weise an dem Burschen interessiert war. Denn das war ich gottverdammt noch mal auf gar keinen Fall.
„Wir essen um sechs“, teilte mir Tante Marie dann mit. „Nimm dir Zeit, um dich frisch zu machen und dich in deinem neuen Zimmer einzuleben. Albert hat dein Gepäck vorhin schon raufgebracht und es in den Schrank gestellt.“
Ein bisschen Zeit für mich selbst klang fantastisch nach dem langen Tag, an dem ständig irgendwelche Leute um mich herumgeschwänzelt waren. Ich nickte und freute mich schon auf die erste Dusche in einem privaten Badezimmer nach über zwölf Jahren.
Sobald die Tür allerdings hinter Marie zufiel, fühlte ich mich ein wenig verloren. Klar hatte sie gesagt, dass das nun mein Zimmer war, aber ich war immer noch Gast. Sie konnten es mein neues Zuhause nennen, so oft sie wollten—in ein paar Stunden würde ich von hier abhauen. Andererseits reizte mich dieses traumhaft schöne Bett ja schon sehr, es einmal zu testen.
Ich ließ mich vorsichtig auf die Matratze sinken. Nicht das leiseste Quietschen einer Bettfeder war zu hören. Meine Beine baumelten in der Luft, als ich zurück in das Kissen sank und begann, die kleinen runden Spots in der Decke zu zählen. Dabei schweiften meine Gedanken ab. Ich könnte jetzt aufstehen, mich nach unten schleichen und dann einfach zur Tür rausschlüpfen. Mit ein wenig Glück würden sie meine Flucht nicht vor dem Abendessen in zwei Stunden bemerken. Eine einmalige Chance.
Der seidene Vorhang über mir streifte mir im Wind übers Gesicht. Gleichzeitig wehte der Duft von Blumen und frisch geschnittenem Gras durchs Fenster. Ich atmete tief ein.
Was wäre, wenn ich bleiben würde? Könnte ich es sechs Wochen lang in diesem Haus aushalten?
Verlockend. Aber unmöglich.
Das Einzige, was ich tun konnte, war meine Abreise einen Tag hinauszuzögern. Immerhin wäre es doch eine Schande gewesen, nicht zumindest ein einziges Mal in diesem wunderbar weichen Bett zu schlafen. Ich kickte meine Stiefel weg, damit ich hier oben nichts schmutzig machte, kniete mich auf die Matratze und lehnte mich mit den Ellbogen auf das Fensterbrett, wobei ich meinen Kopf unter dem Vorhang durchsteckte. Beim ersten Blick auf die weiten Hügel vor meinem Fenster entfuhr mir ein beeindrucktes Pfeifen.
Ein Pfad führte vom Haus ungefähr hundert Meter zu einem riesigen Garten, der ein wenig aussah, wie ein überdimensional großes Gemüsebeet. Die Weinberge lagen in all ihrer Schönheit vor mir ausgebreitet.
In mehreren quadratischen Gärten ragten kleine Büsche Seite an Seite aus dem Boden. Breitere Wege trennten diese einzelnen Partien voneinander. Die noch jungen Reben wiegten sich sanft im Wind. Weiter draußen glitzerten die feinen Tropfen einer Bewässerungsanlange in der Sonne. Vögel hatten ihren Spaß darin. Noch nie zuvor hatte ich einen so bezaubernden Ort gesehen.
Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen und stelle mir vor, wie schön es gewesen wäre, als Kind hier frei herumzurennen und alles zu erkunden.
Wie schön wäre es wohl heute?
Was würde Quinn sagen, wenn er wüsste, in welch bildhübsches Gefängnis mich Abe gesteckt hatte? Er würde mir wahrscheinlich raten, auf meine Mutter zu pfeifen und das französische Leben zu genießen. Na ja, vielleicht mit einer etwas anderen Wortwahl.
Aber ich konnte meine Mutter einfach nicht aus meinen Gedanken streichen und so tun, als ob sie nicht da wäre. Oder vielleicht doch? Ich konnte es ja zumindest mal einen Tag lang versuchen. Ein Grinsen schlich sich in mein Gesicht. Ausgelassen sprang ich auf dem Bett herum und lief anschließend ins Bad.
Dieser Raum, mit seinen rosa und weißen Fliesen, war wie ein Traum aus Zuckerwatte. Warmes Licht fiel durch das mattierte Fenster und auf die breite Duschkabine in der Ecke. Vom Regal an der Wand zog ich ein flauschiges Handtusch und drückte es an meine Wange. Als ich es mir um die Schultern hängte, versank ich in dem frischen Duft von Pfirsichen.
Ich setzte mich auf den heruntergeklappten Klodeckel und stellte mir vor, ich wäre eine Prinzessin und das wäre mein Schloss. Der böse Hausdrache lebte unten in seiner Höhle, wo er hingehörte.
In der Wand neben der Dusche entdeckte ich als
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