Märchensommer (German Edition)
stand da draußen.
Julian.
Ich hielt für eine unerträgliche halbe Minute den Atem an und lauschte, ob er auf meine Seite des Balkons rüberkam. Doch so frech würde er nicht sein. Da in meinem Zimmer kein Licht brannte, dachte er sicher, ich sei bereits eingeschlafen.
Außer dem Wind war draußen nichts mehr zu hören. Ich schlich aus dem Bett und zur Balkontür, wo ich vorsichtig um die Ecke spähte. Die Hände auf das Geländer gestützt, blickte Julian hinaus auf die Weinberge, die gerade in der Dunkelheit versanken. Der schmale Lichtschimmer aus seinem Zimmer tauchte seine Silhouette in weiches Gold.
Julian ließ den Kopf hängen. Unter seinem weißen T-Shirt zeichneten sich seine Schulterblätter ab. Eine unsichtbare Last schien ihm schwer auf den Schultern zu sitzen.
Man musste schon blind sein, um nicht mitzubekommen, dass es die angeschlagene Gesundheit meiner Mutter war, die ihm zu schaffen machte. Für einen Moment hatte ich das Bild vor Augen, wie Quinn mir aufmunternd die Haare raufte, wenn ich mal traurig war oder in Schwierigkeiten steckte. Vielleicht brauchte Julian ja auch jemanden, der ihm die Haare zerwühlte.
Ja genau … geh doch rüber und mach es, Schlaumeier!
Ich verdrehte die Augen über mich selbst. Manchmal kamen mir aber auch die dämlichsten Gedanken in den Sinn.
„Kannst du nicht schlafen?“ Julians Worte waren nur wenig lauter als ein Flüstern.
Woher zum Teufel wusste er, dass ich mich hier versteckte? Ich war doch ganz leise. „Ich bin nicht müde.“ Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen, doch meine eigene Stimme klang für mich wie die einer Fremden.
Nun drehte er sich zu mir und lächelte sogar ein wenig. „Komm raus. Nachts ist es hier oben am schönsten.“
Ich schüttelte schnell den Kopf. „Mm-mm.“
Einen kurzen Moment lang verengten sich seine Augen zu schmalen Schlitzen. „Du hast Angst.“ Er sagte das mit solcher Überraschung, dass ich mich fragte, ob er sich wohl persönlich dadurch beleidigt fühlte. Er stieß sich vom Geländer ab. Mit den Händen in die Hosentaschen geschoben, spazierte er zu mir rüber. „Hoffentlich ist es nur die Höhe des Balkons, die dich nervös macht, und nicht ich.“
„Warum solltest du mich nervös machen?“ Die Frage kam ein klein wenig zittrig aus meinem Mund. Ich drückte mich mit dem Rücken fester gegen den Türrahmen, als er näher kam.
Vor meinem Zimmer blieb er stehen und lehnte sich mit dem Hintern gegen das Geländer. „Tja, warum nur …?“
Wir blickten einander viel zu lange an. In diesem Moment dachte ich, er wolle vielleicht sogar, dass ich in seiner Gegenwart nervös wurde. Aber das war eine blöde Idee. Ich schob den Gedanken beiseite und räusperte mich auf der Suche nach einem geeigneten Themenwechsel. „Wer sind eigentlich die beiden Leute, die ich morgen treffen soll?“
„Valentine und Henri? Oh, sie sind ein nettes Pärchen.“ Julian stützte sich mit beiden Händen auf dem Geländer ab und hievte sich nach oben, um auf der Balustrade zu sitzen.
„Nein, nicht!“ Meine ängstliche Stimme hallte durch die Nacht, als ich mich vom Türrahmen löste und meine Hände in einer hilflosen Geste nach Julian ausstreckte. Doch Panik hielt meine Füße fest am Boden verankert. Wenn er gleich nach hinten kippen und in die Tiefe stürzen würde, konnte ich ihm nicht einmal helfen.
Julian stützte sich immer noch auf dem Geländer ab, doch er hing gerade irgendwie in der Luft und zog dabei eine Augenbraue hoch. Meine Sorge störte ihn offenbar nicht wirklich, denn im nächsten Moment ließ er sich langsam auf das Geländer nieder. Seine grauen Sportschuhe baumelten einen Meter über dem Boden.
Sein Blick war nervtötend, denn er forderte mich damit heraus, doch rauszukommen und ihn von der lebensgefährlichen Holzkonstruktion herunterzuholen.
Ich verbiss mir den Ärger über seine Sorglosigkeit und blieb im sicheren Schutz meines Zimmers.
Julian klimperte amüsiert mit den langen Wimpern und fuhr dann fort, als wäre überhaupt nichts gewesen. „Valentine und Henri Dupres leben in einem Haus ein Stückchen die Straße runter. Sie sind schon etwas älter, arbeiten aber immer noch hart auf den Weinfeldern deines Onkels. Du siehst sie dann morgen früh.“
Das erinnerte mich wieder an das Abendessen und seine Fürsorge. Vielleicht war jetzt ja der geeignete Zeitpunkt, um ihm dafür zu danken, obwohl sich bei dem Gedanken daran so ziemlich alles in mir sträubte. Ich hüstelte leicht und
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