Märchensommer (German Edition)
drehte dann meinen Kopf weg, sodass der Vorhang meine Stimme verschleierte. „Es war übrigens nett von dir, das Treffen auf morgen zu verschieben.“
„Entschuldigung, was hast du gerade gesagt?“ Er grinste verschlagen, und ich überlegte kurz, ob ich ihm ein Kissen an den Kopf werfen sollte. Doch dann wäre er womöglich noch rückwärts vom Balkon gestürzt, und ich wollte nicht daran schuld sein, wenn er sich sein Genick brach.
„Danke“, sagte ich etwas lauter, jedoch durch zusammengebissene Zähne.
Das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. „Gern geschehen, Jona.“ Seine Stimme klang sanft wie das Schnurren eines Tigers und verursachte bei mir eine Gänsehaut. Dann meinte er: „Vorhin beim Essen hatte ich das Gefühl, du wärst überrascht, weil ich mich um dich sorge.“ Er neigte seinen Kopf leicht schief. „Warum?“
„Ich weiß nicht“, antwortete ich automatisch. Vielleicht auch deshalb, weil ich nicht wusste, ob ich ihn anlügen oder die Wahrheit sagen sollte. So wie er mich gerade ansah, fand ich, hatte er die Wahrheit verdient. „Ich dachte nur irgendwie, du kannst mich nicht leiden.“ Mein Krächzen verriet bestimmt meine Unsicherheit und darum ließ ich meinen Blick lieber mal auf den Spalt zwischen den einzelnen Bodenlatten des Balkons sinken.
„Du setzt ja selbst alles daran vorzutäuschen, dass du mich nicht leiden kannst und es dir egal ist, was mit mir passiert. Und trotzdem drehst du halb durch, weil ich hier oben sitze und vielleicht runterfallen könnte.“
„Hey, Freundchen! Wer hat was von vortäuschen gesagt?“ Ich sah hoch in sein Gesicht und fand dort etwas, das ich nicht klar deuten konnte. Es erinnerte mich an Rottweiler Rustys Blick, wenn er einen Knochen ins Visier genommen hatte.
Zwei Sekunden später rutschte Julian vom Geländer und stand wieder fest auf dem Boden. Einhundert verkrampfte Muskeln in meinem Körper entspannten sich, und ich atmete tief durch, wobei mir erst jetzt auffiel, dass ich die Luft überhaupt angehalten hatte.
Hol mich der Teufel, wenn er nicht gerade seinen Standpunkt klargemacht hatte.
Ein Mundwinkel wanderte nach oben. „Ich wünsch dir süße Träume, Jona.“ Damit verabschiedete er sich und schlenderte zurück auf seine Seite des Balkons.
„Gute Nacht“, flüsterte ich so leise, dass nicht mal ich selbst mich hören konnte.
Julian schmunzelte, als er durch die wiegenden Vorhänge in seinem Zimmer verschwand.
Eingekuschelt in eine watteweiche Wolke aus Daunen wachte ich auf. Das dämmernde Licht der Morgensonne schien mir aufs Gesicht. Ich gähnte laut, total entspannt und ausgeruht.
Leicht benommen blinzelte ich ein paar Mal und versuchte mir ein Bild darüber zu verschaffen, wo ich denn eigentlich war. Plötzlich schoss ich hoch. Wie konnte ich hier nur so ruhig und entspannt liegen, wo doch meine Mutter nur ein Stockwerk unter mir lag?
Der Boden war kalt, und ich zitterte leicht, als ich barfuß ins Badezimmer lief. Mit warmem Wasser wusch ich mir den restlichen Schlaf aus den Augen. Dann blickte ich hoch in den Spiegel und entdeckte darin das Gesicht eines unentschlossenen Kindes. Schokolade oder Zuckerstange? Traumschloss oder Freiheit? Wenn ich von hier verschwinden wollte, dann war jetzt der richtige Zeitpunkt.
Gestern hatte Marie für mich ein wunderbares Mahl zubereitet und ich durfte in einem himmlischen Bett schlafen. Jetzt war es an der Zeit die Kurve zu kratzen, bevor ich mich noch an den Luxus hier gewöhnte und nie wieder weg wollte.
„Was ist mit den Weinbergen?“, flüsterte das Mädchen im Spiegel. Ich konnte doch nicht gehen, ohne durch die Weingärten spaziert zu sein. Wenigstens einmal. Heute Abend wäre ich dann bestimmt unterwegs zurück nach England.
Fünf Uhr morgens war wohl noch etwas früh, um nach unten zu gehen und auf Marie zu warten. Ich kroch zurück ins Bett, kniete mich vors Fenster und steckte meine Füße unter die Decke. Mein Kinn auf meine Arme gestützt, blickte ich hinaus auf die Weinberge und träumte davon, was der heutige Tag wohl noch für mich parat hielt. Der erste und einzige Tag meiner Sklavenarbeit.
Was erwartete Albert wohl da draußen von mir? Ich konnte wohl kaum mit einer Gießkanne umherlaufen und die zehn Hektar Land bewässern. Dafür bräuchte ich schon fünfhundert Jahre oder länger. Ich reckte meinen Hals und versuchte die kleinen Trauben an den Büschen zu erkennen. Es war Mitte August, und sie waren sicher noch zu klein, um geerntet zu werden.
Weitere Kostenlose Bücher