Märchensommer (German Edition)
zu wählen. Stattdessen sank sie in den Stuhl mir gegenüber. Unter ihren Augen waren wieder dunkle Ringe, und ihre Hände zitterten ein wenig, als sie nach ihrem Glas griff.
Sie nahm einen Schluck daraus und beobachtete mich dabei über den Rand hinweg. Um keine Schwäche zu zeigen, hielt ich ihrem Blick mit einem grimmigen Gesichtsausdruck stand. Wer zuerst wegguckt verliert! Und das würde sicher nicht ich sein.
Unglücklicherweise brachte sie der Augenkontakt auf die dumme Idee, sie könnte eine Unterhaltung mit mir anzetteln. „Wie gefallen dir die Weinberge? Julian meinte vorhin, du hättest eine Menge Spaß draußen.“
Julian meinte? Na prima. Er war also zu ihr gelaufen, als er mich heute Vormittag mal für eine halbe Stunde alleingelassen hatte. Verdammt, ich hätt’s mir aber auch denken können. Ein kleiner Funken Eifersucht entzündete schließlich die Bombe aus Zorn in mir darüber, dass sie überhaupt mit mir redete. „Der Richter hat mich hier hergeschickt, um Strafarbeit zu leisten. Und genau das mache ich. Nicht mehr und nicht weniger.“ Ich stand auf, um mir etwas zu trinken zu holen. Manchmal war es doch der klügere Schachzug auszuweichen—was immer nötig war, um sie zum Schweigen zu bringen.
Während ich mir Wasser aus der Leitung ins Glas laufen ließ, schlich sich Marie an und legte mir einen Arm um die Hüften. „Wirklich? Nicht mehr als Strafarbeit?“, flüsterte sie mir mit einem Schmunzeln zu. „Und ich habe gedacht, ich hätte dich lachen gehört.“
Ich funkelte sie von der Seite an, doch es half nichts. Ihr Strahlen war wohl in ihrem Gesicht angewachsen. Wieso musste sie nur so liebenswert sein?
Mit dem Glas in der Hand setzte ich mich zurück an den Tisch. Charlene senkte ihren Blick auf ihre knochigen Finger. Ihr Rücken war gekrümmt, ihre Schultern hingen nach unten. Sie sah aus, als könnte sie kaum noch ihren Kopf hochhalten. Ich konnte mich nicht erinnern, sie in den vergangenen Tagen jemals so zerschlagen gesehen zu haben.
Völlig unverblümt gaffte ich sie an, tief in Gedanken versunken. Plötzlich schnellte ihr Kopf in die Höhe. Total erschrocken schnappte ich kurz nach Luft. Durch ihre eingefallenen Wangen sah sie auf einmal unheimlich aus, als sich ein kleines, glückliches Strahlen um ihre Augen abzeichnete. Meine Mutter begann zu lächeln. Gott, jetzt machte sie mir richtig Angst. Meine Muskeln spannten sich an wie Drahtseile. War sie verrückt geworden? Sie sah aus, als wollte sie mich jeden Moment umarmen.
Wilde Panik packte mich. Lauf um dein Leben! Meine Beine bewegten sich unterm Tisch schon in Fluchtrichtung. Doch in diesem Moment wurde mir klar, dass sie gar nicht mich ansah, sondern vielmehr durch mich hindurch. Rüber zur Tür. Immer noch unter Schock stehend, drehte ich mich langsam um, doch hinter mir war niemand. Die Tür war zu.
Aber nicht mehr lange. Nur eine Sekunde später wurde die Türklinke nach unten gedrückt und Julian spazierte herein. Sein ernstes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, als sein Blick zu Charlene wanderte. Das erste Lächeln galt ihr. Das zweite bekam ich ab.
Ich konnte mir nicht erklären, was hier gerade vor sich ging, aber etwas stimmte ganz und gar nicht.
„Oh, hier seid ihr ja endlich“, unterbrach Marie die angespannte Stimmung und küsste Albert, der hinter Julian die Küche betrat, auf die Wange. „Dann können wir jetzt ja essen.“
Die beiden Männer setzten sich an den Tisch, Julian neben mich. „Du hast einen leichten Sonnenbrand bekommen“, meinte er und fuhr mir sanft mit dem Fingerknöchel über die Wange.
Ich zuckte zurück und grollte angewidert. Seine Hand sank auf den Tisch. Offensichtlich beleidigt musterte er mich mit schmalen Augen.
Maries Lasagne roch fantastisch, doch irgendwie hatte ich soeben meinen Appetit verloren. Ich stocherte mit der Gabel in meinem Essen herum, brachte aber nicht viel hinunter.
Meine Tante legte mir nach einer Weile eine Hand auf den Arm. „Was ist los, Liebes? Hast du gar keinen Hunger?“
Die kleinen Härchen in meinem Nacken sträubten sich, als ich auch Julians fragenden Blick auf mir spürte. Vielleicht ahnte er ja, dass er der Grund war, warum ich keinen Bissen mehr runterbrachte.
Sei nicht albern. Woher sollte er das wissen? Ich konnte es mir ja selbst kaum erklären. Eifersüchtig auf seine Beziehung mit meiner Mutter zu sein fühlte sich so derartig falsch an. Aber was sollte ich dagegen machen?
„Ist vermutlich nur die Hitze“, murmelte
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