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Märchensommer (German Edition)

Märchensommer (German Edition)

Titel: Märchensommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katmore
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hätte. „Wie ging es mit ihr weiter?“
    „Nach etwa einem Monat bekam ich den ersten Brief von meiner Schwester. Sie schrieb mir, dass es ihr gut gehe, dass sie Arbeit gefunden habe und in eine kleine Wohnung gezogen sei.“ Der Ausdruck in Maries Augen wurde immer trauriger. „Ich glaube, über all die Jahre habe ich fünf oder sechs Briefe von ihr erhalten. Sie hatte niemals einen Absender auf das Kuvert geschrieben, somit konnte ich ihr auch nie antworten. Es war für uns alle furchtbar, nicht zu wissen, wo sie steckte. Doch sie war erwachsen. Was sollten wir also tun? Das Schlimmste an der Sache war, dass ihr meine Eltern niemals verziehen haben. Sie starben beide vor vier Jahren. Charlene haben sie seit damals nicht wiedergesehen.“
    Wow. Das war hart. Ich fragte mich, ob meine Mutter wohl traurig gewesen war, als sie vom Tod ihrer Eltern erfahren hatte. „Wie kam es dazu, dass sie nun bei dir und Albert lebt?“, wollte ich weiter wissen.
    Marie saß mir gegenüber, kreuzte die Knöchel und umschlang ihre Knie mit ihren Armen. „Vor zwei Monaten stand sie plötzlich vor meiner Tür. Sie sah furchtbar aus, todkrank und völlig abgemagert. Sie brauchte dringend Hilfe.“
    Ich kannte Marie zwar erst seit zwei Tagen, doch es war klar, dass sie Charlene noch im selben Moment vergeben hatte und sie, ohne zu zögern, in ihr Haus aufnahm—so wie sie es bei mir auch gemacht hatte. Dafür konnte ich Marie nur bewundern.
    „Weißt du etwas über ihr Leben in England?“, fragte ich, um die seltsame Stille, die über uns hereingefallen war, zu brechen.
    „Ich kann dir nur erzählen, was sie mir damals erzählt hat.“ Marie runzelte die Stirn. „Als sie Frankreich verlassen hat, war sie bereits schwanger. Der Soldat war dein Vater. Sie musste ihn einfach finden. Deinetwegen. Doch er hatte nicht mit einem Baby gerechnet. Und am Ende stand Charlene alleine da.“
    Mein Vater. Der Soldat war mein Vater. Und er war nicht bei Charlene geblieben. Ich hatte ihn nie kennengelernt. Er wollte mich nicht. Mein Brustkorb wurde plötzlich zu eng für mein Herz. Mir tat das Atmen weh. Gab es auf dieser Welt denn nicht einen Menschen, der mich bei sich haben wollte?
    „Jack ging dann von der Armee aus für einige Jahre nach Amerika“, fuhr Marie leise fort, als sie mein Entsetzen erkannte. „Deine Mutter blieb in England. Sie hatte Angst nach Hause zurückzukehren, mit einem Kind im Arm das unehelich geboren wurde. Besonders nach all den Streitereien mit unseren Eltern. Charlene war sicher, dass sie ein Enkelkind nie akzeptieren würden. Also versteckte sie dich vor uns. Sie hat mir nie etwas von dir erzählt.“ Maries trauriger Blick wurde warmherziger. „Charlene hat sich so sehr geirrt. Wir alle hätten dich sofort in unser Herz geschlossen. Kannst du dir vorstellen, wie überrascht ich war, als sie mir erst vor ein paar Wochen erzählte, was für eine hübsche Nichte ich habe?“
    Ihre lieb gemeinten Worte halfen wenig gegen den Ärger, der in mir brodelte, seit sie ihre Geschichte begonnen hatte. Was hatte Charlene im Sinn? Was bezweckte sie damit, mich jetzt hierher zu bringen, wo ich doch meine Zeit im Jugendheim beinahe abgesessen hatte?
    Sie hatte von einem Zuhause in Frankreich gesprochen. Richtig. Ein Zuhause, das sie mir achtzehn Jahre lang verwehrt hatte.
    Scheiß auf sie und auf das alles hier! Ich würde ihr den Hals umdrehen!
    Wieder voll bei Kräften ignorierte ich den stechenden Schmerz in meinem Rücken, stand auf und machte mich auf den Weg rüber zum Haus. Doch Marie hielt mich am Ellbogen fest. „Was ist mit dir?“
    Was mit mir los war? Ich drehte mich zu ihr um. „Weil Charlene sich für mich schämte, musste ich fast mein ganzes Leben in einem Kindergefängnis verbringen! Hältst du das etwa für fair?“ Ich riss mich los und lief die lange Zeile von Weinreben entlang. Ihr flehender Ruf hinter mir wurde mit jedem Schritt leiser.
    Die brennende Wut in mir presste meine Lungen zusammen, was das Rennen umso schwerer machte. Aber ich kämpfte mich weiter bis zum Garten. Mein Atem fühlte sich an, als würde ich versuchen wie ein Vulkan Feuer zu speien. Ich kickte die Steine in meinem Weg zur Seite, die dann in alle Richtungen schossen. Krebs war eine Möglichkeit, meine Mutter loszuwerden, doch heute würde ich dafür sorgen, dass sie den Löffel abgab.
    Aber als ich beim Haus ankam, musste ich feststellen, dass mir jemand zuvorgekommen war. Durch die breite Glasscheibe im Wohnzimmer sah ich

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