Märchensommer (German Edition)
Charlene auf der Couch liegen und Julian setzte sich gerade zu ihr. Ich stand wie angewurzelt da und hielt sogar den Atem an.
Leichenblass war sie und ihr rechter Arm hing leblos von der Couch. Vorsichtig nahm Julian ihre Hand. Mit der anderen Hand strich er ihr die matten Haarsträhnen aus der Stirn und streichelte dann ihre Wange.
Die beiden in einem intimen Moment zu erwischen stand auf meiner Mach-das-niemals-Liste ganz weit oben. Doch aus irgendeinem Grund konnte ich auch nicht wegsehen. Ich schlich rüber zu der ausladenden Trauerweide im Garten und versteckte mich hinter ihrem dicken Stamm. Dann schielte ich um die Ecke, um herauszufinden, was weiter passierte.
Die Augen meiner Mutter waren geschlossen, doch sie versuchte unter offensichtlicher Anstrengung etwas zu Julian zu sagen. Ich hätte alles gegeben, um zu hören, was sie ihm anvertraute. Julian setzte sein sanftes Streicheln einige Minuten fort. Plötzlich öffneten sich Charlenes Augen weit und richteten sich auf Julians Gesicht. Was sie darin sah, brachte sie aus irgendeinem Grund zum Strahlen. Sie richtete sich etwas weiter auf und lächelte ihn liebevoll an.
Und dann traf es mich wie ein Blitz. Es war gar nicht, was sie in ihm sah, sondern was er mit ihr gemacht hatte, das die Besserung in ihr hervorrief. Das zärtliche Streicheln. Hatte ich nicht gestern genau dieselbe Stimulation von ihm erfahren? Am Flughafen. Und dann auch noch im Flugzeug selbst.
Auf ihre Ellbogen gestützt, wartete Charlene, bis Julian ihr zu einer sitzenden Position verhalf. Ein lebendiges Rot schoss ihr in die Wangen und vertrieb die Leichenblässe. Ihre Augen wurden weiter und verloren ihren glasigen Schimmer. Das Rückgrat, das vor wenigen Minuten noch wie gebrochen gewirkt hatte, richtete sich nun stolz auf. Sie sah glücklich aus. Stark und zufrieden.
Oh. Mein. Gott. Julian war ihr ganz persönlicher Schuss Heroin.
Ich sank mit meinem Rücken gegen die Trauerweide und stieß einen langen Atemzug aus. Was ich gerade beobachtet hatte wirkte so seltsam. Unwirklich. Was war Julians Geheimnis?
Ich lugte noch einmal um den Baum herum. Julian sagte gerade etwas zu meiner Mutter, wobei er ihr Kinn sanft in seine Hand nahm. Dann drehte er sich ohne Vorwarnung zur Seite und sah aus dem Fenster. Er hatte mich entdeckt.
Ich stand unter Schock und konnte mich nicht bewegen. Julian stand von der Couch auf. Sein Blick war eiskalt. Meine Nägel gruben sich in die Rinde des Baumes hinter mir und mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Während er mich in seinem Bann gefangen hielt, vergaß ich völlig, warum ich überhaupt erst hierhergekommen war. Die Welt begann sich um mich zu drehen. Ich musste hier weg. Mit großer Mühe gelang es mir schließlich, meine Augen von ihm loszureißen. Ich drehte im Stand um und marschierte zurück aufs Feld.
Marie sah mich besorgt an, doch ich lief geradewegs an ihr und Valentine vorbei und suchte mir in zwanzig Metern Entfernung einen Platz zum Unkrautjäten. Meine Knie gruben sich in die Erde, als ich den Löwenzahn mit völlig neuem Eifer aus dem Boden riss.
Geheimnisse. Geheimnisse. Was hatte es mit Julian auf sich, dass sich in seiner Gegenwart jeder gleich viel besser fühlte? Ruhiger. Und gesünder. Er konnte die Leute doch kaum mit irgendeinem Zauber belegen. Hypnose vielleicht? Ich schüttelte den Kopf. Erde rieselte von dem Bündel Unkraut, das ich gerade ausgerupft hatte, und ich warf es zur Seite. Mit meinem staubigen Arm wischte ich mir die Schweißtropfen von der Stirn und schnaubte bitterböse durch meine knirschenden Zähne. Verdammt, etwas sehr Seltsames ging hier vor sich.
Und Charlene? Der Drache erstand praktisch von den Toten auf. Wie sie ihn angesehen hatte … total hingebungsvoll. Das war so was von … „Wäh!“ Einfach ekelhaft. Sie war meine Mutter, verdammt noch mal, und somit etwa zweihundert Jahre zu alt für Julian. So etwas durfte einfach nicht sein.
Jemand legte mir eine Hand auf die Schulter. Erschrocken sprang ich auf. „Und warum zum Teufel interessiert mich das überhaupt?!“, brach es aus mir heraus, ehe ich überhaupt realisierte, wer vor mir stand.
Julian trat erschrocken einen Schritt zurück und sah mich verdutzt an. Er zuckte ratlos mit den Schultern.
Ich schnaubte lauter als ein wilder Stier. In mir tobte ein Sturm, und ich wusste nicht, wie ich mich selbst daran hindern konnte, gleich zu explodieren. Doch Julian blieb einfach regungslos stehen. Sein seidiges Haar glänzte golden in der Sonne,
Weitere Kostenlose Bücher