Märchensommer (German Edition)
Mal, was es hieß, wie eine richtige Familie beisammenzusitzen.
Meine Tante erzählte Albert von einer neuen Boutique in der Stadt und dass sie da demnächst unbedingt mal reinschauen wollte. Währenddessen stibitzte Julian ein Stückchen Gurke von meinem Teller und stopfte es sich schnell in seinen grinsenden Mund. Ebenfalls gut aufgelegt, wollte ich ihn gerade zurechtweisen, doch Albert schnitt mir das Wort ab. „Na, Jona, wie fühlst du dich nach deinem ersten Tag draußen in den Weinbergen?“
Um ehrlich zu sein, hatte ich Mühe, meine Augen offenzuhalten. Und doch hatte ich mich noch nie in meinem Leben besser gefühlt. „Mein Rücken tut weh“, gestand ich mit einem kleinlauten Grinsen und schielte dabei zu Marie. „Es wäre wohl doch klüger gewesen, weiter dieses weiße Zeug am Boden zu verstreuen, als Unkraut zu zupfen.“
„Du meinst den Mineraldünger?“, fragte mein Onkel.
Ich nickte. „Ich hoffe ja nur, dass dieses komische Mehl beim nächsten großen Regen nicht zu Teig wird.“
Albert und Marie amüsierten sich über meine Besorgnis, während Julian nur den Kopf schüttelte. „Das wird ganz sicher nicht passieren“, erklärte mir Albert. „Der Dünger hat mit Mehl überhaupt nichts zu tun.“
„Was genau ist es dann?“, wollte ich wissen.
Mein Onkel warf einen tadelnden Blick zu Julian. „Junge, hast du ihr denn heute gar nichts erklärt? Ihr wart doch fast den ganzen Tag zusammen.“
Julian zuckte mit den Schultern und schluckte einen Bissen Brot hinunter. „Sie hat mich nicht gefragt.“
„Tz, tz, tz“, gab Albert missbilligend von sich und schüttelte dabei den Kopf. Ich verkniff mir ein Schmunzeln. Dann wandte er sich wieder mir zu. „Was du und Julian heute gemacht habt war, die Pflanzen mit Nährstoffen zu versorgen, damit sie kräftig und rasch wachsen. Du hättest den Dünger auch zuerst in Wasser auflösen und dann die Reben damit gießen können. Für die Weinreben macht es keinen Unterschied. Aber es ist schon etwas mühselig, alle paar Meter eine neue Gießkanne vollzumachen.“
Mir fiel ein begeistertes Glitzern in Alberts Augen auf, als er weiter von seiner Arbeit sprach. Es bereitete ihm offenbar große Freude, mir alles über die Weinberge zu erzählen: über die verschiedenen Arten der Trauben und wie die geografische Lage am Ende den Geschmack des Weins veränderte. Ich hörte ihm lange Zeit einfach nur zu, auch nachdem wir bereits alle mit dem Abendessen fertig waren.
„Wenn du möchtest, zeige ich dir morgen, wie man mit dem Tester umgeht und die Bodenbeschaffenheit daran ablesen kann“, sagte er voller Stolz.
Ich verspürte plötzlich ein schmerzhaftes Stechen in meiner Brust, denn für mich würde es in diesem Haus kein Morgen mehr geben. Wenn meine Familie aufwachte, würde ich schon längst über alle Berge sein.
10. Der Vogelunfall
DIE ERSTEN SONNENSTRAHLEN eines neuen Tages schienen mir ins Gesicht. Ich kratzte mich an der Nasenspitze und schaffte es irgendwie, meine verschlafenen Augen zu öffnen. Stechende Kopfschmerzen erinnerten mich an Julians Warnung, dass ich in der sengenden Hitze lieber eine Kopfbedeckung tragen sollte. Ein warmer Spucketropfen lief aus meinem Mundwinkel und mein Kinn hinunter. Ich wischte ihn mit dem Handrücken weg und richtete mich auf. Was zum Geier—?
Wo war ich?
Ich streckte meine Arme hoch und meinen Rücken durch, wobei meine Wirbel knackten und ich laut gähnte. Dann blickte ich mich um. Okay, ich saß also an meinem Schreibtisch. In meinem Zimmer. In Maries Haus. Mist! Wie konnte das denn sein?
Auf dem Tisch vor mir lag ein halb fertiger Abschiedsbrief an meine Tante. Er war zerknittert, weil ich wohl die halbe Nacht drauf gelegen hatte.
Großartig. Die Arbeit gestern hatte mich derart erschöpft, dass ich mitten unterm Schreiben eingeschlafen war. In der Ecke neben der Tür wartete immer noch mein gepackter Rucksack auf mich. Alles, was ich wollte, war von hier abzuhauen. Und nun saß ich einen weiteren Tag in diesem Haus fest, gefangen mit dem Drachen.
„Nein, nein, nein!“ Ich schlug mit der Faust auf den Tisch und mein Kugelschreiber flog in hohem Bogen durch die Luft. Als ich ihn vom Boden aufhob, fiel mir die kleine Uhr auf meinem Nachtkästchen ins Auge. Ich hätte wohl besser den Wecker stellen sollen. Das hatte ich nun davon.
Heute Nacht würde ich keine Fehler mehr machen. Ich musste von hier weg und zwar schnell.
Ich machte mich kurz frisch und trottete dann nach unten, wo ich
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