Märchensommer (German Edition)
über deine Mutter gesagt hast.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ja. Na und?“
„Nichts und. War nur so eine Feststellung.“
Ja genau. Es nervte ihn tierisch. „Hör zu. Das bin eben ich. Und wenn sie sich in den letzten zwölf Jahren auch nur ein bisschen um mich geschert hätte, dann würde sie mich kennen und hätte mich vielleicht nicht hierher geschleift.“
„Wenn das wirklich du bist, warum hab ich dich dann noch nie in so einem Ton mit Marie sprechen gehört?“
Ich stieß einen langen Atemzug durch die Nase aus und senkte mein Kinn wieder auf meine verschränkten Arme. „Marie ist anders. Ich finde es schwer, ich selbst bei ihr zu sein.“ Allein der Gedanke an meine Tante besänftigte den brodelnden Sturm in mir.
„Oder vielleicht ist es auch nur zu einfach du selbst bei ihr zu sein. Schon mal daran gedacht?“
Ich blinzelte ein paar Mal. Hatte er gerade angedeutet, ich hätte einen sanftmütigen Charakter? Der hatte wohl einen Knall. Durch die Jahre im Jugendheim und zeitweise auf der Straße hatte ich eins ganz sicher gelernt: Sei hart, sonst gehst du unter wie ein Schiff unter Kanonenbeschuss. Nur die Stärksten behielten ihren Kopf an einem Ort wie dem Westminster Kinder- und Jugendheim, wo Lehrer versuchten, dir an die Wäsche zu gehen, und tyrannische Mitschüler es darauf abgesehen hatten, dich als Aushängeschild für Loser hinzustellen.
„Du verstehst das nicht“, brummte ich. „Und ich mach dir noch nicht mal einen Vorwurf deswegen. Von deinem Standpunkt in der Welt aus muss alles ziemlich einfach aussehen. Du lebst in einem Palast mit netten Leuten um dich, hast einen tollen Job bei Albert in den Weinbergen, wenn du dich nicht gerade um Charlene kümmerst … Du musst dir um nichts Sorgen machen. Aber die Dinge sehen nun mal ein wenig anders aus, wenn man sie von der Kanalisation der Gesellschaft aus betrachtet.“
Mit gekräuselten Lippen kam Julian plötzlich zu mir rüber gerutscht. Seine langen Beine reichten bis zur Mitte des Balkons, als er neben mir saß und sie ausstreckte. Sein linker Arm lehnte gegen meinen rechten. Die Nähe zu ihm ließ mich erschaudern, doch es war kein unangenehmes Gefühl. Im Gegenteil, ein aufgeregtes Kribbeln breitete sich von meinem Magen ausgehend in einer Spirale in mir aus, bis mein Herz beinahe so schnell klopfte, wie das des Vogels vorhin. Die Arme vor der Brust verschränkt, sah er nachdenklich in den Nachthimmel. In seiner Haltung war leider seine Absicht nicht erkennbar.
„Was hast du vor?“, fragte ich ein wenig unsicher.
„Ach, ich will mir die Welt nur mal kurz aus deinem Blickwinkel ansehen. Wenn du nichts dagegen hast“, fügte er noch hinzu.
Ich machte große Augen, zuckte aber mit den Schultern und belächelte ihn. „Bitte. Mach nur.“
Er warf mir einen seitlichen Blick zu und dann passierte etwas Unerklärliches. Sein Ausdruck blieb zwar immer noch freundlich und auch ein wenig neugierig, doch seine Augen schienen in diesem ausgedehnten Moment eine Vielzahl an Emotionen zu durchwandern. Überraschung, Frustration, Mitleid, Angst, Freude, Zorn, Erleichterung. Ja sogar Hunger und Schmerz. Es war total verrückt. Für eine Sekunde hatte ich wirklich das Gefühl, er würde die Welt durch meine Augen erleben. Doch wie war das möglich?
Auf einmal fühlte ich, wie meine kleinen Härchen im Nacken zu Berge standen. Ein Eispickel war gerade dabei, mir wie eine Nähmaschine eine Linie von meinem Genick bis zum Ende meines Rückens zu stechen. Meine Zehen krallten sich gegen das warme Holz des Balkonbodens. Ich hatte ganz plötzlich den Drang, von Julian wegzukriechen—in Sicherheit. Aber ein noch viel stärkerer Impuls fesselte mich an Ort und Stelle. Wie ein Magnet, der auf einen gegensätzlich gepolten Magneten traf, wurde ich mit jeder Faser meines Körpers zu diesem Mann hingezogen. Ich hätte mich keinen Zentimeter von ihm wegbewegen können, selbst wenn ich wollte.
Und dann drang schlagartig dieses Gefühl von überschwänglichem Glück in mich ein und breitete sich in alle Richtungen aus. Meine Gliedmaßen wurden warm und mein Kopf wurde leicht. Benebelt. So etwas hatte ich in dieser Intensität noch nie erlebt. Es war noch um ein Vielfaches stärker als die anderen beiden Male, die er mich auf so seltsame Weise berührt hatte. Dabei hielt er diesmal doch sogar seine Hände vor mir versteckt.
Ich konnte mir nicht erklären, was hier gerade vor sich ging, aber ich wollte nichts lieber tun, als meine Arme um Julian
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