Märchensommer (German Edition)
beschissenen Fehler ein zweites Mal.“
Julians Augen wirkten mit einem Mal traurig. Er wusste also ganz genau, wovon ich sprach. Ich versetzte meiner Stimme eine ekelhaft süße Note. „Ich nehme an, Charlene hat dir erzählt, dass ich bereits zwölf war, als sie mich zum ersten Mal im Heim besuchte.“ Ich verdrehte bei der Erinnerung daran die Augen. „Hat ständig irgendwelche Entschuldigungen gepredigt und von einem neuen, schöneren Zuhause gefaselt. Sie hat versprochen, mich in ein paar Tagen zu sich zu holen, wenn alles geregelt sei.“ Ich machte eine Pause und holte wütend Luft. „Am Ende kaufte ich es ihr sogar ab. Mann, wie blöd war ich eigentlich? Kannst du dir vorstellen, wie schlimm es war, als sie ein paar Tage später dann doch nicht aufgekreuzt ist? Tja, tatsächlich ist sie die nächsten fünf Jahre nicht mehr aufgetaucht.“
Bis letzten Dienstag.
Ein grimmiges Lächeln setzte sich auf meine Lippen. „Diese Tatsache wird sie dir doch sicher nicht verheimlicht haben, oder? Ich meine, wo ihr beide euch doch so nahe steht.“
„Vielleicht hatte sie Gründe dafür, dass sie nicht wieder kam.“
Oh ja, er war voll informiert.
Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust. „Was für Gründe könnten das wohl gewesen sein?“
„Ich weiß nicht. Warum fragst du sie nicht einfach?“ Ein kleiner Schuss Unschuld hallte in seiner Stimme mit. Gerade mal so viel, dass ich mir sicher sein konnte, dass er über alles Bescheid wusste.
Sein absurder Vorschlag stieß mir sauer auf und ich konnte nur darüber lachen. „Ja genau. Als ob mich das in irgendeiner Weise interessieren würde. Sie kann ihre Lügen sonst wem erzählen, aber nicht mir. Dem Teufel vielleicht, wenn er sie am Ende ihres gottverdammten Lebens abholt.“
Julian presste die Lippen aufeinander. Er wirkte immer so betroffen, wenn ich schlecht über meine Mutter redete. Es machte für mich keinen Sinn, doch ich wollte ihn damit auch nicht bekümmern. Nicht heute Nacht.
Also räusperte ich mich kurz und versuchte wieder etwas freundlicher zu klingen. „Wie lange kennst du Charlene eigentlich schon?“
„Eine Weile.“
„Oh, bitte nicht gleich so viele Informationen auf einmal.“ Ich verdrehte die Augen hinter geschlossenen Lidern. „War sie bereits krank, als du sie kennengelernt hast?“
Julian nickte. Natürlich. Warum sonst sollte sich ein Krankenpfleger um sie kümmern? Eine plötzliche Neugier überkam mich und ich setzte meine Fragen fort. „Bezahlt sie dich für deine Unterstützung?“
„Albert bezahlt mich für die Arbeit in den Weinbergen.“
„Du hast meine Frage nicht beantwortet.“
Die Art, auf die Julian seinen Kopf neigte und mich ansah, ließ mich erahnen, dass er seine nächsten Worte mit Bedacht wählte. „Ich bekomme kein Geld von deiner Mutter. Aber sie bezahlt einen hohen Preis für meine Hilfe.“
„Und diese Anstalt, oder wen auch immer sie bezahlt, hat dich geschickt, um sie zu pflegen?“
Ein Schmunzeln stahl sich auf seine Lippen. „So oder so ähnlich, ja.“
Plötzlich schreckte mich Valentines wütendes Gezeter unter uns hoch. Ich hatte keine Ahnung, dass sie überhaupt noch da war. Auch wenn ich kein Französisch verstand, war ich ziemlich sicher, dass sie gerade wild vor sich hin fluchte. Julian lachte laut auf und rief ihr dann etwas zu. Ich verstand wie immer nur Bahnhof.
Nun kicherte auch Valentine, als sie ums Haus verschwand.
„Was hat sie gesagt?“, wollte ich von Julian wissen.
„Sie hat die Vögel verflucht, die ihr auf die Pantoffeln gekackt haben, und gedroht, sie alle mit Henris Schrotflinte zu erschießen.“
Bei der Vorstellung, wie der Teekessel wegen ein wenig Vogelkacke Amok lief, musste ich auch kichern. „Und was hast du ihr geantwortet?“
„Dass sie aufpassen und nicht die Hausmauer durchlöchern soll. Die alte Schrotflinte geht öfter nach hinten los, als sie ein Ziel trifft.“
Es fühlte sich gut an, mit Julian zu lachen. Befreiend. Und wenn er mich nicht gerade wegen meiner Mutter nervte, war er ja wirklich ein niedlicher Bursche.
In der nächsten halben Stunde erzählte er mir alles, was er über Valentine und Henri wusste: wie alt sie waren, über ihre drei erwachsenen Kinder, die manchmal zu Besuch kamen, und was die beiden hauptsächlich in den Weinbergen machten. Allerdings war es eher seine sanfte Stimme, die mich unterhielt, als die Information selbst.
Ich betrachtete seine großen blauen Augen, während er weiter und weiter erzählte. Hin
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