Märchensommer (German Edition)
zu schlingen und für immer in dieser Oase der absoluten Zufriedenheit zu bleiben. Etwas verband mich mit ihm, etwas in seiner Aura. Ich hatte das Gefühl, ich müsste mich nur an ihn schmiegen und dann bekäme ich meine Antwort. Doch das war nicht echt. Ein Trick. Ich kämpfte darum, meinen Verstand über meine Instinkte zu schalten und mich hier nicht komplett zum Affen zu machen.
„Stell es ab!“, presste ich durch meine zusammengebissenen Zähne.
Das Gefühl verschwand. Genauso schnell, wie es aufgetaucht war.
Das Kribbeln in mir verebbte und schließlich konnte ich auch meine Zehen wieder entrollen. Julian rutschte ein paar Zentimeter nach rechts, ließ seine Hände entspannt auf den Boden sinken und blickte in den Himmel. Alles war wieder normal.
„Hmm. Du bist stark“, hörte ich sein Murmeln, doch ich war mir nicht sicher, ob er das gerade wirklich gesagt hatte oder ob mir mein Verstand immer noch Streiche spielte. Ich hatte Angst mich zu bewegen, denn wer konnte schon sagen, was passieren würde, wenn ich Julian noch einmal berührte? Ich hatte keine Lust, es heute Nacht herauszufinden.
Magie? Voodoo? Womit spielte er? Egal, was es war, es begann mir Angst zu machen.
Beruhige dich, Jona. Du bist müde, das ist alles.
Ja. Müde. Das musste es sein. Ich ballte meine Hände um die Bündchen von Julians Sweater zu Fäusten und vergrub sie in meinem Schoß. Nach einem langen und tiefen Seufzen brachte ich schließlich die Hysterie in mir zum Schweigen.
„Nun, wie sieht das Leben aus, wenn man es von der Gosse aus betrachtet?“, fragte ich leise.
„Gar nicht mal so übel.“
„Ach ja?“
„Mm-Hm. Es kommt weniger darauf an, wo man sich befindet.“
„Sondern?“
Julian rollte seinen Kopf zur Seite und sah mich an. „In welche Richtung man von dort aus blickt.“ In diesem Moment war es zwischen uns still genug, um das Lachen eines Marienkäfers zu hören. Dann seufzte Julian. „Du willst wirklich zurück in dein altes Leben?“
„Es ist das einzige, das ich kenne.“
Seinem verkrampften Kiefer nach zu urteilen, frustrierte ich ihn ein wenig mit dieser Antwort. Er rieb sich die Hände übers Gesicht. „Jona, warum willst du einen Apfel, wenn du vor dir Berge voller Trauben hast?“
Ich wusste nicht, wie ich darauf antworten sollte. War auch nicht nötig, denn kurz darauf sagte er: „Kann ich dich mal etwas ganz Persönliches fragen?“
Nachdem was gerade passiert war? Lieber nicht. Doch ich zuckte belanglos mit einer Schulter.
„Wenn deine Mutter bereits gestorben wäre und Marie dich letzte Woche aus dem Jugendheim geholt hätte, um mit dir hier zu leben, wärst du mitgekommen?“
„ Natürlich“ , hätte die Antwort lauten sollen, die ich Julian im nächsten Moment gab. Doch aus irgendeinem Grund fiel es mir schwer, ihn anzulügen. Also murmelte ich ehrlich: „Wahrscheinlich nicht.“
Julian nickte mit Bedacht. „Davon bin ich ausgegangen.“
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und streifte mir mein Haar hinter die Ohren. Meine Hände blieben in meinem Nacken, als ich den Kopf hängen ließ und die Stirn auf meine Knie legte. Es gab eine ganz einfache Erklärung dafür, warum ich wohl nicht mit Marie gegangen wäre. Ich wollte in meinem Leben nie wieder eine Bindung zu jemandem aufbauen. Zu niemandem.
Das allein war der Grund, warum ich bisher noch keinen festen Freund hatte, warum ich in der Jugendanstalt keine Freundschaften aufgebaut hatte und warum ich auch nicht zulassen konnte, dass Marie sich weiter in mein Herz schlich. Ich musste mich selbst davor schützen, verletzt zu werden, wenn ich wieder verlassen werden würde.
Julian zupfte sanft an meinem Hosenbein und holte mich damit aus meinem düsteren Grübeln zurück. „Es heißt nicht, dass dich jeder im Stich lassen wird, nur weil es deine Mutter vor Jahren getan hat, Jona.“
Ich zuckte hoch. Offenbar hatte Julian einen Schlüssel zu meinen Gedanken und ich konnte nichts dagegen unternehmen. „Doch, das heißt es. Wenn es meine eigene Mutter übers Herz gebracht hat, was sollte dann einen völlig Fremden daran hindern?“
Mein bissiger Tonfall wirkte sich in keinster Weise auf seinen sanftmütigen aus. „Manchmal tut den Menschen leid, was sie getan haben, und sie versuchen es wieder gutzumachen.“
Ein Alarm ging in meinem Kopf an. Diese Unterhaltung steuerte in eine Richtung, die mir Magenschmerzen bereitete. Ich biss wütend die Zähne aufeinander. „Und manchmal machen sie den gleichen
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