Märchensommer (German Edition)
war einfach nur zu verschroben, um ihn aufzuschreiben. Aber was war mit der Uhr? Ich spitzte meine Lippen. Es war wohl kaum Julians Schuld, dass der blöde Wecker ein paar Stunden zu spät losging. Ich nahm die Uhr noch mal hoch und untersuchte sie von allen Seiten. Die letzten fünf Minuten hatten die Zeiger einwandfrei gearbeitet.
Ich klopfte mir mit dem Bleistift auf die Lippen und schwang mit dem Drehsessel im Kreis. Was könnte ich sonst noch über Julian aufschreiben …?
Ein Klopfen an der Tür jagte mir einen furchtbaren Schreck ein. Blitzschnell und in Panik stopfte ich meinen Notizblock zurück in die Schublade und knallte sie zu.
„Ja bitte?“ Meine Stimme klang, als hätte mich gerade jemand beim Stehlen der Kronjuwelen erwischt.
Marie steckte ihren Kopf zur Tür rein. „Du bist wach, wie schön. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, weil du nicht zum Frühstück erschienen bist.“
„Ja, tut mir leid. Ich hab wohl verschlafen. Der Wecker hat … ein wenig durchgedreht.“
„Mach dir keine Sorgen. Es ist Samstag, da kannst du auch ruhig mal ausschlafen. Hast du immer noch Lust, etwas gemeinsam mit mir zu unternehmen?“
Da ich ja nun beschlossen hatte, noch ein paar Tage hierzubleiben, war gegen ein paar Stunden mit meiner Tante nichts einzuwenden. Es wäre sicher nett, Marie ein wenig besser kennenzulernen. Und dann kam mir in den Sinn, dass sie ja Julian auch schon länger kannte. Sie könnte mir bei meinen Recherchen über ihn noch sehr hilfreich sein.
Ein breites Grinsen setzte sich mitten in mein Gesicht. „Sicher. Was schwebt dir denn so vor?“
Marie trat über die Schwelle, ließ aber den Türgriff nicht los. „Möchtest du gerne in die Stadt fahren? Ich muss den Kühlschrank für nächste Woche auffüllen und könnte dabei ein wenig Hilfe gebrauchen. Davor könnten wir noch für dich shoppen, irgendwo zusammen zu Mittag essen oder uns ein Eis kaufen.“
Shoppen für mich? Lady, ich hab null Kohle. Und sie wollte wohl kaum mit einer Diebin gesehen werden. Aber Eiscreme hörte sich fantastisch an. Im Jugendheim hatte es niemals Eis gegeben und mit einer Tüte in der Hand vom Eisstand abzuhauen, ohne zu bezahlen, war eine saublöde Idee gewesen. Ich hatte damals auf der Flucht die gesamte Ladung Eis im Hyde Park verloren, ehe ich ein zweites Mal daran lecken konnte.
Ich sagte meiner Tante: „Ich zieh mich nur schnell um und komm dann runter.“ Als sie aus meinem Zimmer verschwunden war, schwang ich mit dem Sessel zurück zum Schreibtisch, stand auf und zog Julians Sweater aus. Ehe ich ihn weglegte, konnte ich aber nicht widerstehen, noch einmal daran zu schnuppern. Mmm, dieses Aftershave oder was immer es war, das er verwendete, war der Stoff, aus dem Mädchenträume gemacht waren.
In der Küche hatte Marie bereits ein kleines, verspätetes Frühstück für mich auf den Tisch gestellt und räumte gerade den Geschirrspüler ein. Sogar eine kleine weiße Vase mit Veilchen stand daneben. Ich hatte kaum den ersten Bissen meines Croissants geschluckt, da kam Albert zur Tür herein und setzte sich zu mir. Er sah aus, als wollte er mir etwas sagen, doch im Moment war er still und sah mir einfach nur beim Essen zu. Ich hatte ein ungutes Gefühl im Magen. Sollte ich ihn fragen, was los war, oder so tun, als wäre nichts?
Ich hielt seinem Blick stand und riss dabei ein kleines Stück von dem Croissant ab, das ich mir dann langsam in den Mund steckte. Albert schob das Glas mit Erdbeermarmelade näher zu mir. „Wie haben dir deine ersten beiden Tage in den Weinbergen gefallen?“, fragte er unscheinbar.
„Ganz gut. Denke ich. Ist vermutlich Arbeit wie jede andere.“ Ich zuckte mit den Schultern. Dann tunkte ich meine Messerspitze in das Glas und schmierte die Marmelade auf mein Croissant. Albert ließ mich dabei nicht aus den Augen. Und ich ihn auch nicht. „Der Bodentester war cool“, sagte ich zwischen zwei Bissen und dabei kam mir ein Grinsen aus.
Mein Onkel knöpfte sich die Hemdsärmel auf und rollte sie bis zu den Ellbogen hoch. „ Oui , das ist auch mein liebstes Spielzeug.“ Seine Stimme war ein wenig leiser geworden, beinahe verschwörerisch, und mein Grinsen spiegelte sich in seinem Gesicht wider.
Ich schlürfte meinen Kaffee und setzte die Tasse dann zurück. „Kümmert sich heute niemand um die Reben?“
„An Samstagen und Sonntagen teilen wir die Arbeit normalerweise in Schichten ein. Dieses Wochenende sind Valentine und Henri auf dem Feld. Alle anderen haben frei.
Weitere Kostenlose Bücher