Märchensommer (German Edition)
Französisch
VOM RÜCKSITZ AUS hatte ich eine gute Aussicht auf Julian, der im Beifahrersitz von Maries Geländewagen saß. So weit, wie es der Gurt zuließ, lehnte ich mich gegen die Tür, hob meine Beine auf den Sitz und betrachtete sein Gesicht etwas genauer, während wir über die holprige Landstraße fuhren. Bis jetzt war mir noch nie aufgefallen, wie seine perfekte, gerade Nase mit den hohen Wangenknochen und den intelligenten Augen harmonierte.
Julian drehte seinen Kopf nur ein paar Zentimeter, doch durch sein amüsiertes Lächeln war mir klar, dass ich ertappt worden war. Wahrscheinlich wurde ich gerade rot wie ein Stoppschild. Ich senkte meinen Blick, jedoch nicht für lange. Als ich wieder hochsah, blinzelte Julian noch zweimal, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn.
Draußen vor dem Fenster huschte die romantische französische Landschaft vorbei. Vielleicht sollte ich mich besser eine Weile darauf konzentrieren.
Nachdem wir die Ortstafel von Fontvieille passiert hatten, bog Marie in eine Einbahnstraße mit faszinierenden bunten Fassaden, die die gesamte Straße säumten. Dahinter konnte man in der Ferne die Berge erkennen. Marie parkte zwischen einem grünen Minivan und einem Cabrio und stellte dann den Motor ab.
Sobald ich die Wagentür aufgemacht hatte, konnte ich bereits das leise Gemurmel der Einkäufer um die Ecke hören, und ich wurde doch tatsächlich ein wenig aufgeregt. Ich stieg mit den anderen aus und folgte ihnen zum geschäftigen Marktplatz, doch dann blieb ich fassungslos stehen. Ein Hauch von Heimat lag über diesem Platz und rief in mir die Erinnerung an Freitagnachmittagsraubzüge wach.
„Hier sieht’s ja aus wie auf der Oxford Street“, stieß ich begeistert hervor und drehte mich dabei im Kreis, um auch all die kleinen Boutiquen und Geschäfte hinter mir zu sehen.
Julian stupste mich leicht mit dem Ellbogen in die Rippen und kicherte. „Nur ein bisschen kleiner, hm?“
„Viel kleiner.“ Aber das machte überhaupt nichts. Der sonnendurchströmte Marktplatz war eine gelungene Imitation. Als wir die Straße runter schlenderten, fiel mein Blick auf einen kleinen Stand mit allerlei T-Shirts, Shorts und auch ein paar Sweatern. Es waren wunderschöne, samtig weiche Stückte darunter. Es juckte mich beinahe in den Fingern, mir ein oder zwei Tops zu stibitzen. War wohl eine alte Gewohnheit. Doch ich schob meine Hände tief in die Hosentaschen. Mit Maries großzügiger Spende brauchte ich mich um neue Kleider nun wirklich nicht mehr zu sorgen.
Nichtsdestotrotz bot sich mir auf diesem öffentlichen Marktplatz gerade eine ganz andere Gelegenheit. Ich könnte ein wenig langsamer gehen, falsch abbiegen und mich blitzschnell aus dem Staub machen. Marie und Julian würden mich in diesem Getümmel niemals finden.
Tja, gestern hätte ich den Plan wahrscheinlich sogar in die Tat umgesetzt, um meiner Strafe namens Familie zu entkommen. Doch heute Morgen hatte ich eine Entscheidung getroffen und für den Moment würde ich auch dazu stehen.
Julian überraschte mich, als er sich plötzlich näher in meine Richtung lehnte und leise in mein Ohr sagte: „Sollte ich ein Auge auf dich haben, nur für den Fall, dass du uns in der Menge noch verloren gehst?“
Ich knirschte mit den Zähnen. Der konnte echt sein Geld auf einem Jahrmarkt mit Gedankenlesen verdienen. „Wenn du dir solche Sorgen um mich machst, hättest du wohl besser Quinns Handschellen mitnehmen sollen.“
Julian legte seinen Arm um meine Schultern und zog mich an sich heran, als wir weitergingen. „Vielleicht hab ich sie sogar dabei“, sagte er mit einem Schmunzeln und zog mit seiner freien Hand etwas aus seiner Hosentasche. Der blanke Stahl der Handschellen funkelte boshaft im Sonnenlicht.
Fassungslos stieß ich Julian weg. „Du meine Güte! Wer bist du? Abes böser Zwillingsbruder? Du wirst mir die ganz sicher nicht anlegen!“
Julian ließ die Handschellen wieder in seiner Tasche verschwinden. „Entspann dich, Jona. Das hatte ich auch nicht vor.“ Mit erhobenen Händen kam er aber dann wieder näher und grinste mich schief an. „Solange du versprichst, nicht abzuhauen.“
Solange er dieses nette Lächeln beibehielt, würde ich wahrscheinlich alles tun, worum er mich bat. Das kleine Mädchen in mir seufzte verträumt. Nach außen hin bemühte ich mich jedoch, cool zu bleiben. „Okay, Daddy . Möchtest du vielleicht auch noch meine Hand halten?“
Er biss sich auf die Unterlippe. Oh mein Gott,
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