Märchensommer (German Edition)
rein noch raus konnte. Doch nach ein paar qualvollen Luftschnappern kam endlich der erste Ton aus meiner Kehle und der war ohrenbetäubend.
Ich kroch ein paar Meter rückwärts über das Parkett und rappelte mich schließlich auf die Beine. Mein schrilles Kreischen hörte dabei nie auf.
Flapp. Flapp. Hinter mir rumpelte es. Dann packten mich plötzlich zwei starke Hände und zogen mich in eine schützende Umarmung.
Julian musste über den Balkon gekommen sein. Was sonst?
Er hielt mich fest, als fürchtete er um mein Leben. Ich schlang meine Arme um ihn und vergrub mein Gesicht in seinem Hemd, wobei ich gegen ein Wimmern ankämpfte und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Seine sanften Finger streichelten mir übers Haar. „Was ist passiert?“
Ich zeigte zur Tür, ließ Julian aber nicht los. „Sie hat jemanden umgebracht.“
Er fasste mich an beiden Schultern und hielt mich eine halbe Armlänge weg von sich, um mir in die Augen sehen zu können. „Was?“ Dann wanderte sein Blick hinter mich und erst jetzt schien er den Hund überhaupt zu bemerken. „Oh nein.“ Julian ließ mich los und kniete sich vor Lou-Lou auf den Boden.
Ich blieb wie angewurzelt stehen und folgte ihm nur mit meinem Blick. Lou-Lou saß ganz ruhig vor ihm, so als wartete sie geduldig darauf, dass der ganze Tumult endlich ein Ende fand und sie stolz ihren Fang präsentieren konnte. Eine Ente. Sie war tot. Ihr Kopf hing nach unten und baumelte an dem dünnen, aufgeschlitzten Hals. Ihr Schnabel stand offen. Blut tropfte heraus.
Julian nahm Lou-Lou das tote Tier aus dem Maul und hielt es an seine Brust. Der Hund leckte sich genüsslich die Schnauze sauber und dann auch noch den Boden.
Tränen aus Schock und auch Mitleid für die arme Ente sammelten sich in meinen Augen und nahmen mir die Sicht. Ich konnte nur vage erkennen, wie Julian aufstand und dabei das zerrupfte Gefieder des Vogels streichelte. Er ging an mir vorbei, rüber zur Balkontür. Dann hörte ich plötzlich ein gequältes, krächzendes Geräusch.
Ein Quaken?
Nein. Konnte nicht sein. Der Vogel war tot.
Wind streichelte um meine Beine. Er fuhr höher, bis mein ganzer Körper in einer watteweichen Atmosphäre eingepackt war, so als würde mich eine Welle der Ruhe sanft aufheben und mit sich tragen. Was geschah hier?
Stocksteif stand ich mitten in meinem Zimmer und hörte zu, wie das Quaken lauter würde. Flatternde Flügel und ein aufgeweckter Schnabel erschienen über Julians linker Schulter, als er hinaus auf den Balkon trat. Im nächsten Moment gab er der Ente einen starken Schubs mit auf den Weg und sie flog über die Weinberge davon.
Was um alles in der Welt—? Julian hatte gerade die Ente zu neuem Leben erweckt.
So wie er es mit meiner Mutter gemacht hatte, als er dachte, es würde ihm niemand dabei zusehen.
Aber das war doch völlig unmöglich. Wo war hier der fehlende Teil des Puzzles?
Voll Misstrauen machte ich einen Schritt zurück, als Julian sich umdrehte und zurück in meine Zimmer kam. Meine Knie schlotterten und alles in mir fühlte sich taub an. Nichts ergab mehr einen Sinn. Bevor mich Julian erreichte, griff ich nach der Rückenlehne meines Drehsessels und zog ihn als Barriere zwischen uns. „Was hast du mit der Ente gemacht?“, krächzte ich. Ich hatte das Anfangsstadium von Hysterie bereits längst überschritten.
Julian zuckte mit den Schultern, doch sein argwöhnischer Blick wich dabei keine Sekunde von meinen Augen. „Ich hab sie freigelassen.“
„Sie war tot.“
„Nein, war sie nicht.“ Er versuchte um den Sessel herumzugehen und mir eine beschwichtigende Hand auf die Schulter zu legen.
Ich trat zur Seite und rollte den Sessel erneut zwischen uns. „Lou-Lou hat die Ente getötet, bevor sie damit nach oben gekommen ist. Ich hab den zerfledderten Hals gesehen. Dein Hemd ist blutig. Und wie erklärst du dir Lou-Lous blutverschmierte Schnauze?“ Ich zeigte zur Tür und wir beide blickten hinüber zu Lou-Lou, doch ihre Schnauze war wieder sauber und ihre Zunge wippte entspannt in der Luft, als sie zufrieden hechelte.
„Lou-Lou hat nur mit der Ente gespielt. Sie hat dem Vogel nichts getan. Wahrscheinlich wurde die Ente vor Schock ohnmächtig.“
Ich atmete tief ein. Langsam. „Okay.“ Okay. Das könnte eine plausible Erklärung dafür sein, dass der Vogel sich wieder gefangen hatte und davongeflogen war. Ohnmächtig. Alles klar. Und Julians Streicheln hatte sie dann eben aufgeweckt.
Zum Leben erweckt.
Mir gefror das Blut in den
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