Märchenwald Mörderwald
normalen Weg oder Pfad erreichen, sondern mussten quer über die Wiese gehen.
Lord Britton steckte voller Tatendrang. Er schlug mir auf die Schulter und fragte: »Gehen wir?«
»Wie Sie meinen, Sir«, erwiderte ich lächelnd.
Da wusste ich noch nicht, dass es für die nächste Zeit das letzte Lächeln gewesen war...
***
Durch den leichten Dunst am Waldrand hatte es so ausgesehen, als würde es uns Probleme bereiten, das Gebiet zu betreten, aber das erwies sich als falsch. Es bedeutete keinerlei Anstrengung für uns, in den Wald zu gehen. Nur wenig später war Sir Henry etwas ratlos, als wir auf dem weichen Boden standen.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Wir haben es falsch angestellt. Eigentlich hätten wir den Wald an einer anderen Stelle betreten müssen.«
»Und warum ?«
Der Lord blickte sich um, als er die Antwort gab. »Weil wir doch zu diesem Baum wollten, unter dem ich die Asche meiner Schwester verteilt habe.«
»Verstehe. Jetzt haben Sie Probleme damit, den Ort von hier aus zu finden.«
»Genau.«
»Kennen Sie denn die Richtung?«
Der Lord knetete an seinem Kinn herum. »Das allerdings.«
»Dann lassen Sie uns losgehen. Vielleicht haben wir Glück und finden den Baum.«
Es war ein Vorschlag, gegen den der Lord nichts einzuwenden hatte. Und so schlugen wir eine bestimmte Richtung ein und marschierten durch eine wirklich wilde Umgebung.
Es war kein Wald, der durch Menschenhand verändert wurde. Man überließ ihn der Natur, und so waren die wenigen Wege, die man früher mal angelegt hatte, verschwunden. Die Natur hatte sich ihr Recht genommen und sie überwuchert.
So verschroben, wie sich Lord Henry gab, war er gar nicht. Er hatte sich einen Plan zurechtgelegt. Wir drangen nicht unbedingt tiefer in den Wald ein, sondern hielten uns in der Nähe des Randes.
Ich hielt mich hinter dem Adligen, der schweigend seinen Weg ging. Nur hin und wieder bewegte er den Kopf, um in die verschiedenen Richtungen zu schauen, aber er änderte seine Route nicht, und das empfand ich als beruhigend.
Ich achtete mehr auf die Atmosphäre. Ich suchte das Andere in ihr, das diesen Wald ausmachte. Man hatte von einem Märchen- und zugleich von einem Mörderwald gesprochen. Beides mochte hier zutreffen, nur erlebte ich noch keinen Beweis. Alles blieb irgendwie verhalten, sehr still, sicherlich auch normal, aber ich ging davon aus, dass sich hinter diesem friedlichen Bild etwas anderes verbarg.
Ich hatte den Hund und dessen Verhalten nicht vergessen. Der grüne Schaum vor seinem Maul war nicht normal gewesen, und wenn ich an Wälder dachte, dann sofort auch an Mandragoro und einen Gedanken später an das Paradies der Druiden – Aibon.
Wir konnten die meisten Gebüsche umgehen, dann blieb der Lord plötzlich vor einem Baum stehen, der quer auf dem Boden lag und beim Fall andere mitgerissen hatte.
»Den kenne ich.«
»Super. Dann kann es ja nicht mehr weit sein.«
»Das glaube ich auch.« Er hob die Schultern. »Ich muss nur noch schauen, wie wir zu dieser Linde kommen.« Er überlegte, malte mit seinem rechten Zeigefinger Wege in die Luft und lachte plötzlich auf.
»Alles klar?«, fragte ich.
»Und ob.«
»Dann los.«
Der Lord schaute mich siegessicher an. Danach kletterte er über den gefallenen Baum hinweg, was wegen der hochragenden Äste und Zweige nicht mal leicht war, aber wir schafften es beide und konnten danach normaler gehen.
Der Dunst hatte es nicht geschafft, bis tief in den Wald vorzudringen. So brauchten wir kein Licht, um uns orientieren zu können. Da sickerte noch genügend durch, obwohl die Sonne nicht sichtbar war.
Unsere Füße wühlten feuchtes Laub auf, aber in der Nähe der alten Linde war es zur Seite gefegt worden, sodass ein Ring um den Stamm herum frei lag.
Der Lord blieb stehen und stampfte zugleich mit dem Fuß auf. »Das ist er«, erklärte er.
»Sehr gut.«
»Werfen Sie einen Blick zum Boden, John.« Sir Henry bückte sich. »Schauen Sie genau hin und sagen Sie mir dann, was Sie sehen.«
»Weniger Laub als sonst.«
»Richtig. Das haben der Förster und ich zur Seite geschafft.« Der Lord machte seinen rechten Zeigefinger lang und beschrieb einen Kreis um den Stamm herum. »Und jetzt stellen Sie sich vor, wie ich die Asche verstreut habe. Sie rieselte aus dem Gefäß, aber sie hätte auf dem Boden lieben bleiben müssen, was leider nicht geschah. Sie ist auch nicht vom Wind weggeweht worden, sondern eingedrungen. Der Waldboden hat sie praktisch
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