Märchenwald Mörderwald
hatte. Da musste es andere Gründe geben.
»Dann können wir ja mit unserer Suche fortfahren«, schlug der Lord vor. »Wir sind auch hierher gegangen, um Marisa und Peter Benson zu finden. Das dürfen wir nicht vergessen, obwohl ich...«, er hob wieder mal einen Zeigefinger, »... nicht mehr davon überzeugt bin, dass sie sich hier in diesem verdammten Wald aufhalten.«
»Warum nicht?«
»Wären sie hier oder sogar in der Nähe, dann hätten sie das Echo des Schusses hören müssen und wären gekommen, um nachzuschauen. Oder was meinen Sie?«
»Das ist nicht falsch gedacht.«
Der Lord grinste breit. »Danke, und jetzt spinne ich den Faden weiter. Da sie nicht gekommen sind, war es ihnen vielleicht nicht möglich, weil man sie festgehalten hat, wie auch immer.«
»Das kann auch sein.«
»Wie damals Hansel und Gretel, die von der Hexe gefangen gehalten wurden. Wälder waren schon immer ein besonderes Feld und...«
Mitten im Satz hörte er auf. Ich kannte den Grund nicht und sah nur, dass er heftig den Kopf schüttelte. Dann trat er bis an die Linde zurück und lehnte sich gegen den Stamm.
»He, was haben Sie?«
»Ich – ähm – die Stimme. Sie – sie ist plötzlich in meinem Kopf. Sie spricht mit mir.«
»Wer? Ihre Schwester?«
»Ja, die Tote...«
***
Der Lord war kreidebleich geworden. Er stand vor der Linde und wirkte wie ein Roboter, der ausgeschaltet worden war.
Doch er blieb nur für einen Moment starr, dann übermannten ihn förmlich die Emotionen. Er schüttelte den Kopf, presste seine Hände gegen die Wangen, sank in die Knie, stöhnte hin und wieder auf.
»Ja, ja, ja...«
Mehr konnte er nicht sagen. Er beugte sich noch weiter nach vorn und stemmte seine Hände gegen den weichen Untergrund, in den sich die Finger regelrecht hineinkrallten.
Ich ließ ihn in Ruhe. Es würde mich nicht weiterbringen, wenn ich ihn jetzt ansprach. Er musste zu sich selbst finden, und er würde dann die Kraft haben müssen, um mir zu berichten, was er erlebt hatte.
Während der Lord litt, schaute ich mich um. Ich wollte die nähere Umgebung absuchen, weil ich das Gefühl hatte, aus dem Hintergrund beobachtet zu werden.
Es war leider nichts zu sehen. Zu dicht standen die Bäume.
Der Lord kämpfte regelrecht gegen den Kontakt an. Es war nicht leicht für ihn, die Botschaften zu verkraften. Ob er sie auch weiterhin hörte, wusste ich nicht. Jedenfalls bestand seine Reaktion nur noch aus Stöhnen.
Ich fand es an der Zeit, ihn anzusprechen, und blieb dicht vor ihm stehen. Er musste mich bemerkt haben, denn er hob den Kopf an und blickte in mein Gesicht.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
Sir Henry schüttelte den Kopf.
Ich streckte ihm die Hand entgegen.
Er war froh über diese Hilfestellung und ließ sich in die Höhe ziehen. Ich schaute dabei in sein Gesicht, in dem sich das widerspiegelte, was an Emotionen in seinem Innern tobte. Er musste sich gegen den Stamm lehnen, um überhaupt auf den Füßen bleiben zu können. Der Schweiß ließ seine Haut glänzen. Mit einer fahrigen Bewegung wischte er über Stirn und Wangen hinweg.
Natürlich war ich neugierig und wollte auch so schnell wie möglich alles wissen, aber ich ließ ihm Zeit, sich zu erholen. Ihn zu früh zu fragen brachte nichts ein.
»Es war grauenhaft«, sagte er mit leiser Stimme, »aber ich habe die Stimme meiner toten Schwester genau verstehen können. Ich weiß nicht, wo sie steckt, ich weiß eigentlich gar nichts, aber sie hat mit mir gesprochen, und ihr Geist muss das Jenseits noch nicht erreicht haben.«
Das konnte durchaus sein, denn auch ich wusste, dass es geheimnisvolle Parallelwelten gab, die einen »normalen« Menschen nicht ohne weiteres akzeptierten. Doch das war im Moment sekundär. Ich wollte von dem Lord wissen, was ihm seine Schwester mitgeteilt hatte.
Allerdings fiel ich nicht sofort mit der Tür ins Haus und fragte leise: »Es war also Ihre Schwester, mit der Sie Kontakt gehabt haben?«
»Ja, das war sie. Glauben Sie mir nicht?«
»Doch, doch. Ich wollte mich nur vergewissern. Das ist alles. Wir müssen unser Gespräch ja auf eine vernünftige Basis stellen.«
»Schon gut, Sinclair, schon gut.« Er holte schwer Luft. »Ich bin im Moment noch ein wenig durcheinander.« Er suchte nach den richtigen Worten. »Es ist – es ist, als wäre ich in eine andere Welt eingedrungen. Ich habe Kontakt zu einem anderen Reich gehabt, zu einem Unsichtbaren...« Er nickte vor sich hin und schaute an mir vorbei.
»Aber auch zu Ihrer
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