Magazine of Fantasy and Science Fiction 19 - Welt der Illusionen
selbst nach.
Morley marschierte die ganze Nacht durch, ruhte sich am nächsten Tag lange aus und setzte den Marsch gegen Abend fort. Er ging gleichmäßig weiter und wagte es schließlich sogar, kurzzeitig bei Tageslicht zu wandern. Sein hohes Alter lastete bleischwer auf seinen Schultern, aber Morley dachte nie wieder daran, in das Seniorendorf zurückzukehren, das nun schon unendlich weit hinter ihm zu liegen schien.
Ob Regen oder Sonnenschein, Morley machte sich längst keine Gedanken mehr darüber, wo und wie er schlafen würde. Am besten kümmerte man sich einfach nicht darum, dann stieß man eigentlich fast immer auf eine passende Unterkunft. Wenn die Sonne strahlend am Himmel stand, schlief er irgendwo im Freien. Oder er fand einen alten Schuppen, ein verlassenes Haus, ein rostiges Autowrack oder einen natürlichen Unterschlupf, wo eine Überschwemmung hinter und neben einem umgestürzten Baum weiche Sanddünen angehäuft hatte. Die beiden ersten Tage lebte er nur von der mitgebrachten Schokolade. Später benützte er Bindfaden, Angelhaken und Würmer, um in Bächen und kleinen Flüssen Fische zu fangen, die er gleich am Ufer über einem fast rauchlosen Feuer briet. Er war ständig darauf bedacht, möglichst nicht gesehen zu werden. Gelegentlich hörte er vereinzelte Autos über die staubigen Landstraßen rattern oder sah Bauern auf den Feldern, aber die Leute waren immer weit von ihm entfernt, was Morley nur recht sein konnte.
Einige Tage später schien sich die Luft irgendwie zu verändern; sie war strahlend klar und wirkte durchsichtiger als zuvor. Morley nahm diesen Wechsel zunächst nicht richtig wahr, aber dann fiel ihm auf, was das bedeutete – der Frühling war gekommen, während er nach Südosten marschierte.
Hügel, Wiesen und Felder, die bisher noch braun gewesen waren, schimmerten plötzlich in einem zarten Grün. An den Weiden blühten Kätzchen. Morley hatte das Gefühl, ebenfalls an diesem Frühlingserwachen teilzuhaben, denn auch sein Körper schien sich von innen heraus zu erneuern. Er wanderte durch eine Landschaft aus grünen Trieben, Knospen und Blattspitzen. Er ruhte sich am Waldrand unter Heckenrosen aus.
Morleys Haut war nicht mehr grau und schlaff. Sie war von der Sonne braungebrannt und straffte sich über den Knochen. Seine blauen Augen waren nicht mehr trüb, sondern klar und reflektierten das Blau des Himmels. Augenbrauen, Haare und Bart hoben sich weiß von der dunklen Haut ab.
Er marschierte unermüdlich weiter. Das Blätterdach wurde dichter, dann füllten Efeuranken, Schlinggewächse und Spinnweben die letzten Zwischenräume. Hummeln summten an Morley vorüber, Libellen schwebten glitzernd über grünen Tümpeln voller Algen. In den Pappeln stieg der Saft nach oben und brachte die Knospen zum Bersten.
Am nächsten Abend wußte Morley, daß er sein Ziel schon fast erreicht hatte. Im Südosten blinkte in regelmäßigen Abständen ein vertrautes Licht auf – der Leuchtturm von Bittern Shoals. Morley stand in einer Senke zwischen Zedern und wilden Erdbeeren, wo er die Nacht verbringen wollte. Von hier aus führte ein sanft geneigter Abhang zum Fluß hinunter, der hinter Bäumen, Büschen und hellgrauen Nebelschwaden verborgen lag. Grillen zirpten im hohen Gras. Hinter Morley spielten junge Hasen im Klee. Die Sonne war bereits untergegangen, aber Wolken und Nebelschwaden reflektierten ihr Licht noch immer in unregelmäßigen Schattierungen, die Morley an eine nasse Regenbogenforelle erinnerten. Aber im Südosten war der Himmel so seltsam aufgehellt, wie es nur am Meer der Fall sein konnte, dessen silberner Glanz sich in den Wolkenschleiern spiegelte. Dann hörte Morley den vertrauten Schrei über sich. Ha-a-a! Ha-a-a! Ha-a-a!
Seemöven ließen sich mit dem Wind landeinwärts über die Marschen treiben, segelten mit wenigen Flügelschlägen durch die kühle Abendluft und stießen dabei immer wieder ihren krächzenden Schrei aus. Und dann spürte Morley auch das Pulsieren der Wogen und roch Salzwasser und Tang.
Er breitete seine Decke aus, blieb auf dem Rücken liegen und hörte den Vögeln zu. Morgen würde er kurz nach Tagesanbruch weitermarschieren. Bis zum Meer war es jetzt nicht mehr weit. Er stellte sich die letzte Frühjahrsflut vor, wenn der Mond als schmale Sichel am Himmel stand und doch die Wassermassen weit über den Strand zu den Dünen trieb, wo sie das Seegras überfluteten ...
Er schrak plötzlich auf und hatte unerklärliche Angst. Die Sonne
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