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Magazine of Fantasy and Science Fiction 19 - Welt der Illusionen

Magazine of Fantasy and Science Fiction 19 - Welt der Illusionen

Titel: Magazine of Fantasy and Science Fiction 19 - Welt der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.A.
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abtransportiert werden. Obwohl er schon so lange in Seniorenheimen lebte, hatte Morley noch immer das Gefühl, hilflos irgendwelchen feindlich gesinnten Mächten ausgeliefert zu sein.
    Aber jetzt aß er nicht mehr regelmäßig. Er hatte häufig Gedächtnislücken, konnte manchmal nicht mehr logisch denken und verlor seinen früher so ausgeprägten Zeitsinn. Aber obwohl er sich an vieles nur noch ungenau und verschwommen erinnerte, wußte er durchaus, wie schön die Jahre mit Lisa gewesen waren. Und je weiter er zurückdachte, desto besser und klarer erschien ihm alles, so daß er nur noch ungern in die Gegenwart mit ihren bedeutungslosen Spielchen zurückkehrte. Aber dann dachte er wieder an den Hubschrauber und bemühte sich, keine Symptome zu zeigen.
    Schließlich hatte Morley eines Nachts im Schlaf einen so kühnen und wilden Gedanken, daß er erst in der folgenden Nacht auf die gleiche Idee kommen mußte, bevor er ernstlich daran glauben konnte. Und dann hörte er auch einen Laut, den er seit Jahren immer wieder bewußt überhört hatte. Während er angestrengt lauschte, ließ der Vollmond die Fensterscheiben wie Perlmutt schimmern. »Lisa«, dachte er. »Hörst du? Die Wildgänse ziehen heim. Erinnerst du dich auch an den ersten April? Dann bricht das Eis auf den Sümpfen.«
    Vor Morleys innerem Auge erschien ihr Sommerhaus, vor dem schlanke Schilfhalme aus dem dunklen Wasser ragten und sich in einer leichten Brise bewegten. Einen Augenblick lang war er ganz schwach vor Heimweh. Lisa und er hatten dort jeden Sommer einige Wochen verbracht. Das Holzhaus war jetzt bestimmt schon zerfallen, aber Sonne, Meer und Himmel konnten sich nicht verändert haben.
    Morley suchte in seinem Nachttisch nach der Tafel Schokolade, die es am Vortag zum Mittagessen als Überraschung gegeben hatte. Drei Minuten später stand er mühsam auf und zog sich mit zitternden Händen in der Dunkelheit an. »Lisa, ich gehe nach Hause. Wenn ich unterwegs sterbe, bin ich immer noch glücklicher als hier, wo ich nur in der Sonne sitzen und darauf warten kann, daß sie mich abholen. Ich muß es einfach versuchen – für uns beide, Lisa.«
    Wer irgendwo einen alten Mann allein marschieren sah, würde ihn zurückbringen oder zumindest melden. Selbstverständlich nur zu seinem eigenen Besten, als sei er ein verirrtes Kind oder ein Hund, der sich verlaufen hat. Deshalb mußte er die Straßen meiden und durfte sich möglichst nicht blicken lassen.
    Er suchte einige Kleinigkeiten zusammen, die er von früher her gerettet hatte. Sie lagen alle unten im Kleiderschrank. Angelhaken, die er noch zuletzt gekauft hatte, bevor sie umgesiedelt wurden. Ein Taschenmesser, das Lisa auf dem Jahrmarkt in der Lotterie gewonnen hatte. Ein Streichholzheft mit Aufdruck Fox Bridge Inn. Bindfaden, den Lisa von Weihnachtspäckchen aufgehoben hatte. Ein kleiner Affe, den er für sie aus einem Pfirsichkern geschnitzt hatte. Morley rollte seine Bettdecke zusammen und wickelte den Bindfaden darum. Er zog zwei Hosen, zwei Hemden und seine Jacke an, weil er nicht beurteilen konnte, wie gut sein Körper die Kälte ertragen würde, nachdem er jahrelang vor ihr geschützt gewesen war. Er reckte sich steif und hörte das warnende Knacken in seinen Gelenken, als er zur Tür schlich und sie leise wie ein Dieb öffnete. Sein Mund war vor Aufregung trocken, sein Herz klopfte bis zum Hals.
    Er kroch zitternd auf die Feuerleiter hinaus. Das kalte Eisen betäubte seine Handflächen, als er sich daran festklammerte. Er hatte plötzlich das Gefühl, in der Dunkelheit nichts mehr zu wiegen. Der Wind bewegte seine spärlichen weißen Haare wie Spinnweben und würde ihn im nächsten Augenblick fortreißen, als sei er nur eine Motte, nur ein vertrocknetes Samenkorn. Früher hatten die Menschen bis ins Alter hinein für sich selbst sorgen dürfen und hatten deshalb gewußt, was sie sich noch zutrauen konnten. Aber Morley war allzulange in einem Laufstall eingesperrt gewesen – sein verweichlichter Körper war ihm fremd geworden. Er war sich nicht darüber im klaren, wie sehr und wie lange er ihn noch belasten durfte.
    Schließlich kletterte er von der Leiter aus auf die Mauerkrone, ließ sich jenseits der Mauer zu Boden fallen und blieb keuchend liegen. Sein Atem kam stoßweise und pfeifend, als sei eine Art primitive Klarinette in sein Brustbein eingebaut. Während er allmählich wieder zu Atem kam, hörte er keinen Alarm hinter sich. Aber er hatte kurze Zeit mit allen möglichen Zweifeln zu

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