Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
gewesen. Welchen Gegenstand würdest du als Begleiter auf eine einsame Insel mitnehmen? Konrad hätte geantwortet: die Bibel. Ich damals: das Kaleidoskop.
Lukas hat ein enormes Temperament, das zeigte sich früh. In dieser Hinsicht, denke ich oft, kommt er nach mir, bis zu einem gewissen Grade auch in seinem Wesen. Direkt wie ich, manchmal struppig im Umgang. Ein ewig Unruhiger. Ein Weltenbummler – er würde dazu mehr Gelegenheit haben als ich. Eines Tages würde er zu einer Wanderung am Polarkreis aufbrechen.
Mit neunzehn Monaten tat er den ersten Schritt, nicht einen, gleich viele hintereinander. Tagelang wartete ich darauf. Lukas stand jetzt öfter außen am Gitter des Laufstalls, es schien, er wollte es loslassen. «Komm, komm, komm», lockte ich ihn immer wieder, wartete mit ausgebreiteten Armen. Entfernte mich, horchte in seine Richtung. Er hampelte, ich wartete.
Warum läuft er nicht? Eines Mittags: ein Tapp, Tapp, Tapp, hinten im Hausgang. Über den ganzen langen Gang wackelt er mit seinen pummeligen Beinen. Plumps, fällt er auf seinen dicken Windelpopo, ich höre seine Atemzüge, ein kleines erregtes Schnappen.
Bald danach brachten wir ihn nach Lörrach in die Augenklinik «Blauer Blick», die erste Star-Operation war fällig. Es war schwer, ihn dort allein zu lassen, Lörrach war zu weit, um ihn jeden Tag zu besuchen. Deswegen waren wir beruhigt, dass die Stationsschwester Signal gab, Lukas fühle sich wohl. Auf seinem Zimmer waren noch Zwillinge, zwei debile, krummgewachsene, sehr freundliche Buben.
Anscheinend hatte nach der Operation das Sehen ein wenig angefangen, man konnte es allerdings noch nicht wirklich genau sagen. Die Schwester berichtete am Telefon, Lukas gefalle das Rot der Vorhänge so gut. Anderntags, als ich zu ihm kam, sprang er immer wieder aus dem Bettle und lief in dieses zwei Meter entfernte Rot hinein, wickelte sich in den Stoff, putzte vergnügt sein Göschle darin ab. Wieder zwei Tage später brachte ich ihm einen leuchtend roten Plastikfisch mit, er war halb so groß wie Lukas, wie ein Zeppelin mit Flossen. Ich legte ihn, ohne ein Wort, auf den grünen Boden. Kaum hatte ich das getan, bewegte sich Lukas auf ihn zu, streckte die Händle aus: «OOOOOOOOOOOOOOO!» Das rundeste, dickste «O», das er jemals losgelassen hat. Den Fisch haben wir Joooonas getauft, Konrad erzählte ihm später dazu die biblische Geschichte von Jonas im Sturm, der von einem Fisch verschlungen und glücklich, drei Tage danach, wieder ausgespuckt wird.
Auf jeden Fall sah Lukas mehr, erst auf dem rechten Auge, nach der zweiten Operation auch links. Gegenstände, auf die er früher nicht reagiert hatte, den Topf auf dem Herd zum Beispiel, den grünen Eimer im Bad. Einen Hut, den ein Schüler an die große Wandtafel gezeichnet hat, an dieses breitkrempige Ding erinnert sich Lukas bis heute, und an das Fenster in der Schulklasse, hinter dem grün schimmernd die Wiese anstieg. Damals fing er an, aufzupassen, wohin ich das Kaleidoskop vor ihm in Sicherheit brachte.
Wir konnten es nun wagen, ihm Bilderbücher vorzulegen. Das erste kam mit der Post, kurz vor Weihnachten 1964, von der Schwester vom «Katholischen Blindenwerk». Was macht Lukas? Nimmt es, tapst zu Konrads Bücherregal und will es hineinstellen. Und weil da kein Platz ist, legt er das Buch schließlich untendrunter und wendet sich uns zu. «Stolz grinsend», so Konrad. Es war ein schönes klassisches Kinderbuch, das Alltagsdinge erklärte. Ein volles Glas, ein leeres Glas, ein Kreis und ein Rechteck, zu jedem ein Versle, das Lukas in kürzester Zeit auswendig konnte und dem jeweiligen Bild richtig zuordnete. Diese Art von Büchern schenkten wir ihm fortan, spartanisch aufgemacht, mit großzügigem Seitenaufbau, klaren Farben und Konturen. «Kasimirs Weltreise» hieß eines, ich erinnere mich gut an ein Bild, das Lukas und mich sehr bezauberte, da stieg ein blauer Wicht vom Gipfel eines Kirschbaums auf den großen gelben Mond.
Lukas’ Augen machten Fortschritte, das war unser schönstes Geschenk! An diesem Weihnachten, seinem zweiten, stellten wir den kleinen Christbaum, mit Schnüren fest verzurrt, in den Laufstall, damit er die bunten Glaskugeln möglichst nahe hatte. Eine zerbrach er, darüber war er so entsetzt, dass er ganz fürchterlich hat weinen müssen. «O du fröhliche, o du selige» sangen wir mit dem Gast aus der Fremde, einem hervorragend Deutsch sprechenden Studenten aus Ghana. Kann sein, dass ich in dieser besonderen Heiligen
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