Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
graste nämlich gern. Seit ich ihm einmal ein Butterbrot mit Kresse zu probieren gab, war er vernarrt in Grünfutter. Wir lagen auf der Wiese, zwischendurch haben wir unsere Füße in den Murmelbach gehalten oder ein wenig getanzt. Seine Hände fest in meine gekrallt, er konnte ja noch nicht laufen, zusätzlich gesichert durch die Leine, die ich mir um die Hüften schlang, drehten wir uns. «Er rüttelt sich, er schüttelt sich, er wirft die Beinchen hinter sich. Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann in unserem Kreis herum.» Manchmal sind mir die Tränen runtergelaufen vor lauter Seligkeit. Wenn ich daran denke, kommt es mir vor wie im Märchen. Es war keines, es war wirklich so.
Am Wochenende haben wir uns meistens zu dritt im Garten verlustiert. Einer hackte, einer pflückte was, derweil Lukas auf allen vieren herumkroch. Es war zwar hangig, stellenweise richtiggehend steil, aber strukturiert. Jedes einzelne Beet war eingefasst mit Holzbrettern, damit Wind und Regen die Erde nicht forttrugen. Diese Begrenzungen waren eine gute Orientierung, die hatte ich Lukas gezeigt, und er hatte begriffen. Er wusste bald genau, wo sich das Essbare befand. Ganze Kopfsalate biss er ab, seine größte Leidenschaft aber war Zwiebelrohr. «Papa, brennts!», rief er, als er sprechen konnte.
Der Satz wurde später zur Überschrift einer oft erzählten Kindheitsanekdote. «Brennts!» Ihm brannte das Maul. «Iss doch nicht dauernd diese scharfen Dinger», grummelte Konrad aus den Himbeersträuchern. «Papa, Himbeerle!» Natürlich kriegte er eine Handvoll, und nachdem er damit seinen Brand gelöscht hatte, hat er gleich wieder in den Zwiebeln gesessen. «Papa, brennts. Himbeerle!» So ging es munter weiter, pikant, süß, pikant, es schien ihm bestens zu bekommen.
Eines der ersten Wörter von Lukas war «Eigener». Das hieß so viel wie «selber machen». Er zupfte mir den Löffel aus der Hand. Butterbrotstückle wollte er selbst aufpicken und selbst in den Schnabel stecken. Mit gut einem Jahr schon, nachdem er ausdauernd sitzen konnte, hat er sich nicht mehr füttern lassen. «Eigener!» Unheimlich, dieser Kerl! Eindeutiger konnte das Signal für die beginnende Loslösung kaum sein. Es kam viel, viel früher als erwartet, bevor ich selbst dazu bereit war, die innige Zweisamkeit aufzugeben. Lukas strebte fort von mir, jeden Tag ein Stückle mehr. Robbte schneller, zog sich, wo er Halt fand, in die Höhe. Und stand. Wir räumten ihm für seine Abenteuer das große Wohnzimmer frei, nur die Chaiselongue, eine Kommode und der Esstisch blieben. Ich gewöhnte mir an, ihn ganz leicht mit dem Finger anzutippen, wenn ich etwas von ihm wollte. Hallo, ich melde mich bei dir an, junger Mann, jetzt hebe ich dich hoch, oder ich werde dich anziehen.
Farbenlehre war jetzt auf dem Programm. Lukas war dafür genauso empfänglich wie ich, dreißig Jahre zuvor, in Großvaters Malerwerkstatt. Spielzeuge in schönen reinen Farben suchten wir für ihn aus. Er hat nie ein rosarotes Schweinchen gehabt, nie Mischfarben, der Elefant zum Draufrumbeißen war entweder rot oder weiß. Zu Weihnachten hat er kleine bunte Fässle aus Plastik gekriegt, später eine Holzschraube, auf die man rote, gelbe, blaue Würfel schrauben musste, was eine Mordsarbeit war. Beim Erklären der Farben hab ich ihren Namen immer möglichst klangvoll betont. «Grüüüüüün.» Oder: «Roooot.» Mit den Wörtern Musik gemacht. «Lilllla», ein ganz kurzes «i», ebenso das «a», rasch, rasch, wie ein kleiner heller Vogellaut. «Blauauau» wiederum war langsam, es kam tief aus dem Inneren, dann stieg ich bis in den Keller der Tonleiter hinunter.
«Blauauau», echote er.
«Hellblauauau», setzte ich fort.
«Helauau!»
«Enzianblauauau.»
«Ia-Auauau.»
Oft endete unser Spiel mit dem Ausruf: «Mamaaa, oooop.»
Er verlangte nach dem Kaleidoskop. Dies Wunderding aus Kindertagen hütete ich. Das erste, ein Geschenk meiner Eltern, war bei dem großen Bombenangriff 1944 verlorengegangen, bald nach dem Krieg kaufte ich mir wieder eines, von eigenem Geld. Jahrelang hatte ich versucht, dieses Spiel der Veränderung in Farbe zu begreifen: Wie die Körper aus farbigem Glas sich in dem Rohr bewegen, sich spiegeln, wie durch Drehen immer neue geometrische Muster entstehen. Noch in der letzten Phase der Schwangerschaft ist das Spiel mit dem Kaleidoskop, bei dem man in Ruhestellung agiert, bequem auf dem Sofa, und mit den allergeringsten Bewegungen ein Übermaß an Farbe erleben kann, mein Trost
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