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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
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herausgekrabbelt und hab mich in die Kirchenbank geschleppt, mechanisch die Vaterunser gebetet, die er mir zur Buße aufgegeben hatte.
    Unter den Nazis war ich der Zwangssterilisation entkommen, und jetzt wurde ich aufgefordert, in Gottes Namen, mich freiwillig sterilisieren zu lassen. Die Szene hat mich nie losgelassen. Im Traum habe ich mit geballten Fäusten vor diesem Kerl gestanden: Der soll mir nochmal auf den Buckel steigen, den schüttle ich ab!
    Aber es war ja nicht dieser eine Pfarrer allein. Mitte der sechziger Jahre hörte man so etwas öfter, sogar in Blindenkreisen. Kameraden aus Marburger Zeiten äußerten sich in diesem Sinne. «Wir dürfen nicht!» Aufsehen erregte damals eine Studientagung des evangelischen «Christlichen Blindendienstes» zum Thema «Verantwortliche Elternschaft in der Ehe blinder Menschen». Pastoren sprachen, Ärzte sprachen. Vor allem der Beitrag der Vorsitzenden des Hessischen Blindenverbandes erregte mich, Dr. Friedel Heister, sie trat vehement für die freiwillige Sterilisation ein. Dieser Gedanke müsse endlich aus dem Tabu befreit werden, das ihm durch die Nazizeit anhafte. Viel später habe ich die Protokolle der Tagung nachgelesen und wieder den Zorn gespürt. In der Abschlussresolution heißt es: «Besteht die große Wahrscheinlichkeit, die Blindheit zu vererben, so stellt sich die Frage nach dem Verzicht auf Kinder in höchster Verantwortung und Schärfe. Für die Entscheidung kann nicht allein die eigene Lebensführung der Eltern ausschlaggebend sein, sondern sie muss getroffen werden auch im Blick auf das Schicksal der Kinder als Einzelwesen und als Glieder der Gemeinschaft.» Ähnliche Gedanken kamen zwei Jahre später aus dem Vatikan, lassen sich in der Enzyklika «Humanae vitae» finden. In den Begriffen der Zeit waren Konrad und ich verantwortungslose Eltern.
    Solange wir mit Lukas in Tonberg lebten, redete uns niemand in die Erziehung rein. Konrad und ich waren in pädagogischen Fragen ziemlich einig. Der Bub musste pünktlich ins Bett, das war Gesetz. Gewisse Sicherheitsregeln mussten sein «wegen der Äugle», ansonsten ging es bei uns recht zwanglos zu. Lukas teilte unseren Alltag und suchte sich dabei weitgehend selbst seine Liebhabereien. In der Küche hatte ich ihm zwei Schubladen zugewiesen, in denen er gefahrlos kramen konnte. Spiele ergaben sich einfach, neben der Arbeit. «Mama, such mich!», rief er aus seinem Versteck unter der Eckbank. Ich bewegte erst mal polternd ein paar Schranktüren, auf und zu, auf und zu. «Lukas, bist du da?» Dann suchte ich ihn in der Topfschublade, er schüttete sich aus vor Lachen, und ich nutzte sein Quieken und Kreischen, um mich leise anzuschleichen. Selten nur packte ich daneben, ein Arm, ein Bein oder auch beides ließ sich leicht erwischen. «Such mich, Lukas!» Nun ging es umgekehrt, natürlich kriegte er mich viel, viel schneller zu fassen.
    Nachmittags nahm ihn Konrad manchmal mit ins Schulzimmer. Dort war ein kleiner Tisch, nahe der Wand, ganz für ihn allein, auf dem er, während der Papa Hefte korrigierte, seine Bilderbücher anschauen konnte. Im Dorf hatte er leider keine Spielgefährten, das einzige Kind, das altersmäßig zu ihm gepasst hätte, war debil. Den Schülern wich er meistens aus, auf dem Pausenhof herrschte Krach, ein irres Tempo. Manchmal ließ er für kurze Zeit zu, dass sich die großen Mädchen seiner bemächtigten. Sie liebten ihn, weil er so vertrauensselig und spielfreudig war, er war für sie eine lebendige Puppe.
    Mit zweieinhalb Jahren ungefähr hat Lukas angefangen zu fragen. Alle naselang brachte er irgendwas an, dessen er habhaft werden konnte, eine Blume, einen Stein. «Was ist das?» Oder fasste ans Tischbein, tippte aufs Sofakissen, irgendwohin, wo er sich gerade befand. «Das?» Antwortete keiner von uns oder war das Wort, das wir ihm nannten, zu kompliziert, machte er selber eines. Unser Wäschekorb hieß das «Gatsch», ein alter Reisekorb, der leicht geknarrt hat. «Gatsch» fiel der Deckel zu, das hörte sich wirklich so an. Und der Gummistöpsel im Waschbecken mit der kleinen Kette war das «Goch», schönste Lautmalerei, «Goch», das Geräusch, das beim Ablassen des Wassers entstand. «Sssiuk» war die Schleudergardine. «Darf ich sssiuk machen?» Er wollte den Stab bewegen, mit dem man sie vor- und zurückzog, um die Metallringe zum Rollen und Singen zu bringen. Lukas war Spezialist im Wörterfabrizieren, Wörter und Musik, eins ging in das andere über.
    Konrad befand,

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