Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Lukas sei jetzt allmählich alt genug, um mit uns in die Kirche zu gehen. Sonntags um neun Uhr bimmelte es vom Miniaturglockenturm schräg gegenüber, ein kurioses Stück Architektur, das ein frommer Bauer vor langer Zeit mal auf den Giebel seines Hauses hatte setzen lassen, damit kein Tonberger mehr zu spät zum Gottesdienst kam. «Das Glöckle!» Mit dem fünften, sechsten Ton sprangen im Ort die Türen auf, Zeit, sich auf den Weg zu machen. Eine Stunde genau brauchte ein normaler Fußgänger bis ins Kirchdorf. Außer uns hatte kaum eine Familie ein Auto, weswegen Konrad öfter Kirchentaxi spielte, auch mal unter der Woche, wenn Mai-Andacht war oder ein Sünder eilig zur Beichte wollte. In umgekehrter Richtung transportierte unser VW ebenfalls so manche Fracht, gehbehinderte Personen, schweres Gepäck, Milchkannen und alle paar Monate für uns selbst zwei, drei Kistchen Wein. Als Lehrer konnte Konrad nämlich zu sehr günstigen Konditionen an den Lieferungen von Messwein teilhaben.
Dem Pfarrer, einem bodenständigen, spröden Mann, hatte er gleich am Anfang der Tonberger Zeit seine Dienste angeboten. Im Gottesdienst zu assistieren, mochte Konrad schon seit seiner Kindheit in Herrenschwand gern, jetzt hatte er wieder Gelegenheit dazu. Was zusätzlich anfiel, die zugige Sakristei heizen oder im Pfarrgarten jäten, tat er ohne Murren. Konrads besonderes Verständnis des Christentums lernte ich in den ersten Ehejahren erst richtig kennen. Einerseits hat er diesen festen Glauben an Christus und die Bibel, auf der anderen Seite die Freude am Dienen, sich in einem Gotteshaus, dort, wo er lebt, nützlich zu machen. Dieses Klare, Unbeirrbare wollte er an Lukas weitergeben.
«Lukas, bald kommst du mit in die Kirche!», hatte Konrad immer wieder gesagt, lange, bevor es so weit war.
«Jaaaaaa.»
Noch nicht ganz drei war er. An sein erstes Kirchenerlebnis erinnert er sich selbst ziemlich gut.
Eine Andacht, keine Messe, an einem schönen Herbstnachmittag. Es ist voll, Lukas zwischen Konrad und mir eingezwängt. Die vielen anderen Leute kann er kaum sehen. «Interessantes Licht, farbige Fenster», weiß Lukas noch. Und irgendwo weit weg spricht einer, die meiste Zeit allein. Er füllt den großen Raum mit seiner Stimme. Mit den Wörtern kann Lukas nichts anfangen, aber dann legt die Orgel los, erst leise, nach wenigen Akkorden braust sie auf, gewaltig, jubelnd. Lukas zittert, er fasst unsere Hände. Die Musik hört auf, er ruft in den Raum:
«Kunschstück isch’s!»
Seitdem gingen wir sonntags in Dreierformation in die Kirche. Oft fuhren wir mit dem VW nicht gleich heim, sondern machten Ausflüge, kürzere oder längere. Mal besuchten wir Konrads Kollegen vom katholischen Lehrerverein, vier Lehrer, alle noch Junggesellen, reihum in ihrer Einöde. Alle paar Wochen war Herrenschwand dran, Konrads Mutter, seltener Freiburg. Autofahren war schwierig für Lukas und mich. Wenn man nicht sieht, wird einem ab einer gewissen Geschwindigkeit, noch dazu auf den kurvigen Straßen, schnell übel. «Mieswerdsträßle» nennen wir sie heute noch. Mir wurde vorne sterbensschlecht, und Lukas kotzte mir in den Rücken. Damit war der Ausflug beendet. Wir haben dann Antikotzspiele entwickelt – Spiele, bei denen man sich so konzentrieren muss, dass man die Übelkeit vergessen hat.
«Ich heiße Adam.»
«Ich heiße Adam und komme aus Afrika.»
«Ich heiße Adam und komme aus Afrika, fahre mit dem Auto nach Argentinien.»
«Ich heiße Adam und komme aus Afrika, fahre mit dem Auto nach Argentinien, trinke dort einen Apfelsaft.»
Und so weiter, «esse Anisplätzchen, rede mit Arabern …»
Ein anderes Spiel hieß: «Ich komme in die Märchenstadt.» Dort haben alle Straßen und Plätze Märchennamen.
«Zum Dornröschenberg – wie kommt man da hin?»
«Von der Siebenzwerge-Gasse, und dann in die Schneewittchen-Straße.»
«Lukas, du hast den Rumpelstilzchen-Platz ausgelassen.»
Auch Konrad hatte so seine Tricks. Auf der Strecke nach Herrenschwand, die er manchmal allein mit Lukas fuhr, machte er Umwege, sodass möglichst viele Kurven und Berge dabei waren, beschrieb dabei die Aussicht, Kühe, Passanten und ihre Hüte, was alles da war. Das höchste Glück: die Rückreise am Abend so zu gestalten, dass die Sonne immer wieder verschwand und wieder auftauchte. Buckel runter, Sonne weg, und raus aus dem Loch, hoch und höher, Sonne da.
«Sehen wir sie noch einmal?»
«Jaaaa!»
«Vielleicht sind wir zu spät dran?»
Geschafft! Auf der
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