Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
er einfach nur im Garten gehockt und sich in der Sonne geräkelt. Gleich morgens, noch vor dem Anziehen, begaben wir uns ans Fenster und genossen aus der Vogelperspektive die Pracht der Beete. Wie eine bunte verschwommene Landkarte lagen sie unter uns. Ich brachte Lukas bei, das Monokular zu benutzen: Mit Hilfe des einäugigen Fernrohrs, ähnlich dem, wie es früher die Seeleute hatten, konnten wir uns einzelne Farbinseln näher heranholen. Das «Glotz» setzte er seitdem täglich ein, es wurde sein ständiger Begleiter – und ist es noch. Oft spielte er da oben am Fenster «Rapunzel, Rapunzel, lass dein langes Haar herunter».
Bis Pfingsten bin ich nur nachts im Dorf herumgelaufen. Im Vergleich zu Tonberg war Sonnenmatt riesengroß, es hatte dreihundertfünfzig Einwohner. Wieder das alte Problem: Die Leute sollen nicht sehen, wie blind ich bin. Theoretisch habe ich gewusst, es gibt eine Straße rauf und noch eine quer dazu, und oben an der Hauptachse rechts ist der Kaufladen, die Milchsammelstelle und schräg gegenüber das Kirchle. Diese Strecke hab ich mir langsam mit den Füßen ertastet. Mir erhorcht. Wo fließt der Bach, und wie stark ist sein Gefälle? Die Höhe der Häuser ausgelotet, ihren Charakter in etwa und ihre mutmaßliche Funktion. Vor welchem ist ein Misthaufen, wie viele Schritte sind es bis zum nächsten? Der berühmte «Stallgeruch» verriet viel. Seit mir ein Schwarzwaldbauer das mal erklärt hatte, konnte ich auseinanderhalten, ob Schwein, ob Kuh, ob der Stall gepflegt ist. Hat der Bauer trockenen Mist, mit viel Stroh versetzt, oder sauren, von Jauche triefenden? Bei einem bemerkte ich gleich den ordinären Gestank von Nachgeburten, die nicht vergraben wurden.
Mühelos ließen sich die alten Winzerhöfe erkennen, sie schienen ganz und gar durchtränkt von Most, vom Trester. Bürgersteige existierten hier ebenso wenig wie im Schwarzwald, der Streifen zwischen Häusern und Straße war nicht klar definiert, eine Art Niemandsland. Manch einer ließ eine Holzlieferung tagelang daliegen, oder es lag ein Dreirädle quer. Man musste erst die dazugehörigen Leute, ihre Gewohnheiten ein wenig kennen, um die Gefahr einschätzen zu können.
Abends zogen die Sonnenmatter Frauen mit dem Handwägele zur Milchsammelstelle. Das halbe Dorf hat sich dort eingefunden, Großmütter und Enkel, viel junges Volk, es war der Ort zum Flirten und Necken. Feierabendstimmung, eine schöne Atmosphäre. Ein Geschnatter, Geschwätz, Gekreisch. Streitende Kinder, am Rande hat noch die Jungmannschaft Fußball gespielt. So muss Italien sein, hab ich gedacht. Ich war gerne hier, und Lukas kam gerne mit. Meist stellte er sich drinnen neben der Frau auf, die die Milch in den großen Trog schüttete: platsch. «Mama, sooooo viel Milch!» Dabei mochte er Milch gar nicht, er mochte genau wie ich das Tohuwabohu hier. Mit etwas Glück durfte er bei jemandem auf dem Wägele heimfahren, neben der leeren Milchkanne. Sobald die beiden schepprigen kleinen Kirchenglocken ertönten, «bing-bing-bing», sprangen alle auseinander. «Jee, ’s lütet scho.» Das war der Moment, wo er richtig postiert sein musste, in der Nähe einer netten Frau, die ihn einladen würde: «Komm, steig auf, Bub.»
«Grüß Gott, Frau Lehrer!» Natürlich ging es wieder los mit diesem Zirkus. «Frau Weingartner, bitte.» Obwohl ich mich sehr bemüht habe, das Image der Respektsperson loszuwerden, ist es mir nie ganz gelungen. Konrad als Lehrer war eine, wenngleich es ihn nie wirklich interessiert hat, und er hat es schon gar nicht im Dorf ausgespielt. Ihm war wichtig, dass ihn der Schulrat möglichst in Ruhe ließ, und das tat er. Dieser noch junge Vorgesetzte, Herr Krause, ein leidenschaftlicher SPD-Mann, war Konrad gewogen. Seine Schwester war mit Konrads Schwester zur Klosterschule gegangen, so etwas zählte damals. Auf Herrn Krause war Verlass, auch im Hinblick auf die anstehende Gemeindezusammenlegung: Die Grundschule bleibt in Sonnenmatt, hatte er fest versprochen.
Auf seine eher unauffällige, handfeste Art fand Konrad Zugang zum Dorf, indem er wieder mal der Kirche seine Dienste anbot. Sonntags hörten die Sonnenmatter aus seinem Munde die Lesung und die Fürbitten. «Der beste Lektor, den wir je hatten», sagen heute noch einige. Im Jahr unserer Ankunft suchte die Winzergenossenschaft einen neuen «Öchslemesser». Es musste jemand sein, der einerseits etwas vom Wein verstand, andererseits unbestechlich war, möglichst mit niemandem im Dorf verwandt.
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