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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
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dann das Ganze vor die Nase, kriegte einen Niesanfall, ohne Ende. «Das ist Pfeffer, das musst du wissen», sagte ich zu ihm.
    Mit seinen dreieinhalb Jahren wurde er selbständig, und im Dorf war so viel zu entdecken. Ein gefährliches Alter, wir mussten jetzt sehr, sehr streng sein. Beinahe täglich erließen wir neue «Schutzbefehle». Lukas fuhr zum Beispiel liebend gern auf vollbeladenen Heuwagen. Wir schärften ihm ein, dass er dies niemals ohne einen Erwachsenen tun darf und dessen Hand nicht loslassen, bis der Wagen auf dem Hof angekommen ist und ihn jemand runterhebt. Manche Bauern haben das Heu schon nicht mehr von Hand auf den Speicher gegabelt, sondern ein Gebläse mit langen Rohren gehabt. Natürlich wollte Lukas helfen, die Maschine zu füttern. Um ihn davon fernzuhalten, griff Konrad zu drastischen Methoden: «Do muscht weg! Wenn du z’ nooch bist, no chunsch oben als Brootwurst usse.»
    Konrad fädelte sich wieder in die Landarbeit ein, und oft nahm er Lukas mit. Beim Kartoffelnauflesen ist er in der Reihe mitgehoppelt, zwischen den Erwachsenen und anderen, größeren und kleineren Kindern. Besonders schön war für ihn die Arbeit, die er «dem Mais den Kittel ausziehen» nannte, die Bauern sagten «Welschkorn abbelze». Man saß auf einem Wagen, links und rechts ein Brett zum Sitzen, in der Mitte ein Haufen Kolben. Einen geschnappt, ausgepellt, «fffft» nach vorne geworfen, die Schale hinten in den Hof. Alte, Junge, ein Dutzend und mehr Leute machten mit, und dabei wurde erzählt. Das war für Lukas interessanter als jeder Tag in der Kinderschule.
    Im Boden wühlen, sagt er heute, ist wichtig gewesen, dabei habe er viel Angst überwunden. Momente wie der auf dem großen Pferd, «ein paar Meter reiten, ohne Sattel». Vier muss er damals gewesen sein, beim Kartoffelsetzen war es, er hat sein eigenes Körble gehabt. Wir haben ihm gezeigt, wie man die Knolle ins Loch legt und ein wenig antritt, damit sie nicht gleich wegkullert. Am Ende erschien das Pferd, und plötzlich saß er oben, jemand sagte: «Wenn das Ross noch ein wenig rumläuft, dann wachsen die Kartoffeln.» Ihm war klar, dass es etwas fallen lässt. Abends fragte er uns besorgt:
    «Und sind die Rosspfudle dann in den Brägele?»
    «Nein, Lukas.»
    «Aber wo bleiben die?»
    Wir konnten ihm seine Phantasien nicht ausreden, er glaubte viele Jahre, unsere Bratkartoffeln wären von Pferdeäpfeln durchsetzt.
    Wir haben ihm seine Gedanken und Hirngespinste gelassen, freuten uns daran. Vor allem seine Begabung, Wörter und Begriffe zu bauen, hat uns immer wieder verblüfft. Einmal, im Spätherbst, kurz vor Allerseelen, nahm Konrad ihn zum Friedhof mit. Dort wurde gerade jemand beerdigt, Lukas war ganz erschrocken, dass da Menschen weinten. Flüsternd legte ihm Konrad den Vorgang dar. So gut er konnte, beschrieb er ihm den Sarg und dass darin ein gestorbener alter Mann liegt, der nun zu einem großen Erdloch getragen wird. «Mama, stell dir vor», erzählte Lukas bei seiner Rückkehr, «in nem Totenschächtele.»
    An diesem Tag führten wir unser erstes philosophisches Gespräch.
    «Tod», sagte ich, «ist, wenn die Seele aus dem Leib geht.»
    «Was ist die Seele?»
    «Seele ist das, was in dir lieb und zornig ist.»
    «Und das geht dann fort?»
    «Ja, das tut es.»
    «Sieht man die Seele?»
    «Nein, die ist fast wie Luft.»
    Nach einer Weile sagte Lukas zu mir: «Gell, dann ist der Leib eine Seelentüte?»
    Daran hab ich manches Mal gedacht, wenn ich ihn strafen musste: Jetzt schüttle ich die «Seelentüte». Im Verhauen war ich nie gut, da hat es in mir eine Sperre gegeben. Ein Kind strafen mit den Händen, mit denselben Händen, die es streicheln, davor hatte ich Scheu. Außerdem habe ich nicht genau sehen können, wo ich hinschlug. Ein Klaps im Affekt, ja, eine verunglückte Backpfeife – er konnte ein Trotzkopf sein, ein richtiger Unhold. Dreimal die Zuckertüte umschmeißen, das geht eben nicht, oder den Klammernsack auf der Wiese ausschütten, bei so was bin ich schon mal ausgerastet. Dann hat mich das Wort «Seelentüte» schnell wieder zur Vernunft gebracht. Mit seinen scharfen Ohren hat Lukas meistens schon an meinem Schritt gehört, dass ich wütend bin. «Du läufst so streng, Mama.»
    Im November des Jahres, in dem wir neu anfingen, starb mein Bruder. Mittags klopfte die Nachbarin ans Fenster: «Freiburg ist am Telefon.» Peter habe einen schweren Unfall gehabt, sagte Mutter. «Kommt sofort.» In der Klinik habe ich ihn noch lebend

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