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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
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Von jeder einzelnen Kipplore mussten mit dem Handfraktometer die Öchslegrade gemessen werden, viel Arbeit also. Konrad zögerte zunächst. «Als Aushilfe, gut.» Und dann hat er das Amt dreißig Jahre am Hals gehabt. «Sie haben doch als Lehrer so lange Herbstferien.» Es hatte den Vorteil, dass er die Eltern und Großeltern seiner Schüler kennenlernte und wusste, was hinter den Fassaden des Dorfes geschah.
    Für Lukas war nun der Übergang in eine größere Welt gekommen. Die Kinderschule war praktischerweise direkt unter unserer Lehrerwohnung, in ehemaligen Schulräumen. Über uns, in der Mansarde, lebte die leitende Kindergärtnerin, «Tante Hanna», eine warmherzige, etwa dreißigjährige Frau, die bald bei uns ein und aus ging. Lukas hörte täglich ihre Stimme und den Kinderlärm, und er gewöhnte sich, ohne dass wir gedrängt hätten, «du musst», an den Gedanken, dabei zu sein.
    Wir ließen ihm Zeit, zunächst schickten wir ihn nur stundenweise runter. Er fühlte sich äußerst unwohl, bis heute erinnert er sich nicht gern daran: vierzig Kinder in einem Raum, die sich fürchterlich schnell hin und her bewegten. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich mit ein paar Bauklötzen in eine Ecke zurückzuziehen. Notfalls schickte ihn Tante Hanna kurzerhand wieder zu mir nach oben. Bubenspiele gingen gar nicht, draußen auf der Wiese mit den vielen Obstbäumen war er verloren. Bälle werfen und fangen, Krieg mit Stöcken, Wettrennen auf Fahrrädle, unmöglich. Für die Angriffslustigen war er wehrlose Beute, Lukas konnte nicht zurückhauen, ja er konnte den, der ihn piesackte, oft nicht mal identifizieren. Im besten Fall kriegte er einen Arm oder ein Bein zu fassen und biss zu.
    Pragmatisch wie er war, hielt er sich an die Mädchen, die kleinen, an die ruhigeren Gemüter, und wurde seitdem als «Maidleschmecker» verspottet. Am zufriedensten war Lukas mit einem Stück Papier und ein paar Farben. An solchen eher seltenen Tagen tappte er mittags leichten Schrittes die Treppe hoch, an den anderen stampfte, trampelte er, von der Küche aus hörte ich schon, wie er gestimmt war. Von allem hat er erzählt, er war keiner, der hinterm Berg hielt.
    Konrad und mir tat das Herz weh. Aber was sollten wir tun? Lukas musste sich an fremde Menschen gewöhnen, musste lernen, sich durchzusetzen und Freundschaften zu schließen. Es wurde Sommer, und plötzlich kam uns die glorreiche Idee: Der Bub braucht ein gutes, starkes Kettcar. Bei einem Bekanntenbesuch hatten wir ihn beobachtet, wie er mit dem Dreirädle des Sohnes fuhr, und festgestellt, er ist umsichtig, auf Sicherheit bedacht, und anscheinend überblickt er ein Stück Strecke. Mit einem Kettcar, überlegten wir, müsste es gehen. Damit kann er ruhig irgendwo gegenstoßen, da ist es auch nicht so schlimm, wenn ein anderes Kind ihn rammt. Lukas freute sich unheimlich darüber, er blühte richtig auf und war mit einem Mal begehrt bei den anderen Kindern. «Mensch, hast du ein tolles Kettcar!»
    «Samstag, 3. Juli 1966. Kettcar gekauft in Freiburg.» Dank Konrads Notizen wissen wir manches genau. In seinem Kalender trug er damals jeden Tag etwas ein, kurz und knapp: «Schule gehalten. Tante Hanna zu Besuch.» Oder: «Magdalena unwohl. Gewitter.» Oder: «Duschtag, eine Brause kaputt.» Neulich abends hat er mir die ganze Litanei der Eintragungen von 1966 vorgelesen. Wie ereignisreich und dicht dieses erste Jahr in Sonnenmatt war! «Wein blüht. Nie zuvor gesehen.» So viel Neues, Ungewohntes! Ab und zu hat Konrad auch etwas aus der Zeitung festgehalten. «Moby Dick. Weißwal im Rhein. Schülern davon erzählt.» Mit einem Ausrufezeichen versehen die Nachricht: Die römische Kurie hat den seit 1559 geführten Index der verbotenen Bücher aufgehoben. Das interessierte Konrad natürlich, ich erinnere mich gut daran. «Na, endlich!», sagten wir an diesem Tag zueinander.
    «15. Juli 1966, Lukas schält Zwieble und weint.» Lukas wollte mir unbedingt beim Zwiebelschälen helfen. Und hielt das braune Ding unters Auge, er dachte wohl, aus der Nähe gehe es am besten, und er begann, ziemlich geschickt, die Häute zu lösen. «Huaaaa!» Ein Urerlebnis! Mittags erzählte er es Konrad und brach gleich noch einmal in schreckliches Weinen aus. In derselben Zeit entdeckte er den Pfefferstreuer. Auf dem weißen Resopaltisch glänzte ein Büchsle in der Sonne, das alte Lied, alles Blinkende zog ihn an. Den Deckel kriegte er nicht auf, mit den Fingern spürte er die Löchle auf und hielt

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