Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
patrouilliere ich barfuß durch den Garten auf der Suche nach einem trockenen Plätzchen. Heute fand ich eines in der Nähe der Hecke, im lange nicht gemähten Gras. Es war Mittag, die stillste Zeit im Dorf, und ich hörte das Springen der Ginsterschoten, dieses leise Knacken, wie wenn ein Tier springt.
Solche Momente sind rar, der September ist ein lauter Monat, ein richtiger Krawallmonat. Menschen und Vögel streiten sich um die Trauben, unentwegt schimpfen sie aufeinander, tricksen einander aus mit sämtlichen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Einige Wochen vor Ernte werden überall die Reben mit Netzen eingesponnen, Konrad macht das bei uns, zusammen mit Freunden. Währenddessen spektakelt das versammelte gefiederte Volk aus den Bäumen. Protest! Protest! Anderntags spätestens hören wir die Ersten unter den Netzen. Sie finden immer neue Schlupflöcher. Die Amseln, dieses Lumpengesindel, sind die größten Spezialisten. Und Konrad flucht, «drecksverfressenes Lumpentier, mistigs, du», und was er so an Grobheiten aus seiner Kindheit im Vorrat hat. «Freche Siech!» Krach hilft, Topfdeckelkonzert, Knisterfolie. Der Mensch muss Präsenz zeigen, sonst kann er seinen Gutedelwein abschreiben.
Unsere neunzig Rebstöcke am äußeren Gartenrand sind im Grunde nicht der Rede wert. Nicht mehr als «ein fruchtbarer Zaun», lästert Lukas, «kauft lieber den Wein.» Was ihn allerdings nicht daran hindert, jedes Jahr zum Rebenschneiden aus München anzureisen, sogar mit seiner Liebsten, Marie. Lukas ist ja schon mit vier, fünf Jahren mitgestöpselt und hat mit dem Scherle rumgefummelt. Wie alle Sonnenmatter Kinder damals, sonst hätte man sie hüten müssen, und wer hätte das tun sollen in diesen Tagen? Solange von Hand geerntet wurde, durfte niemand fehlen, auch gestorben werden durfte tunlichst nicht. «Muss denn der im Gutedelherbst sterben!», das war das Schlimmste, ein Begräbnis kostete das Dorf viele kostbare Stunden.
Sonntag vor Michaelis ist es so weit, schätzt Konrad. Das Laub färbe sich bereits. Ich kann seinen Zustand fühlen, an einer Stelle komme ich ziemlich gut mit der Hand unters Netz. Auf der Oberfläche sind die Blätter jetzt nicht mehr ganz glatt, zwischen ihren noch strotzenden Adern scheint das Welken begonnen zu haben. Es riecht leicht gärig, und ein wenig faulig, das sind die von Wespen angestochenen Trauben.
Meine Aufgabe an diesem Sonntag ist, das Herbstessen vorzubereiten. Schäufele und Brägele, so ist die Tradition in unserer Familie. Neun Arbeitsleute sind voraussichtlich am Steintisch, immer dieselben: Konrad und Lukas, eine Nachbarsfamilie, die Winzerfreunde Edmund und Anna, und dazu die Hausfrau, also ich, das macht zehn, mit Marie, die mir hilft, elf. Viel zu viele Hände für die drei Rebreihen, am längsten dauert das Entfernen der Netze, gelesen ist dann ruck, zuck. Lukas, der am meisten Kraft hat, trägt die vollen Eimer zur Straße und leert sie in die Bütte. Am Ende kutschiert Edmund mit dem Traktor die Trauben samt Mannschaft die hundert Meter zu seiner Kelter. Eimer für Eimer wird in den großen hölzernen Trichter der alten Triebelmühle gekippt, anschließend kommt die Maische auf die Trotte, das Herauspressen des Saftes dauert mehrere Tage. Edmund tut das für uns. «Genau so hat man schon vor viertausend Jahren gekeltert», seufzt er beim Herbstessen, jedes Mal.
«Ausreißen müsste man die Reben», sagen wir zueinander in jedem Oktober. «Nächstes Jahr, Konrad?» – «Nächstes Jahr, Magdalena!»
Dieses eine Mal noch. Die Reben bringen mir Lukas ins Haus, unsere letzte Begegnung vor der Operation. Heute Nacht dachte ich plötzlich, ich würde ihn so gern ansehen. Siebenundvierzig ist er jetzt. Schon lange weiß ich nicht mehr, wie mein Sohn aussieht, spätestens seit ich ihn nicht mehr berühren darf, wir nicht mehr zusammen baden und kalbern. Ich glaube sein Gesicht zu kennen, aber wahrscheinlich ist es eher so, dass meine Phantasie seine Stimme in ein Bild umsetzt. «Gut sieht er aus», sagt Konrad.
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Haus mit sieben Zimmern
Wir waren im siebten Jahr unserer Ehe, eine ziemlich lange Zeit jetzt schon verheiratet, so kam es mir damals vor – lang, nicht langweilig. So entspannt war ich in meinem ganzen früheren Leben nie. Ich schlief neben Konrad ein, ich wachte auf, und er war neben mir, und er würde es morgen auch sein, im Frühling, im Herbst, nächstes Jahr. Wir waren nun erfahren in der Lust, nur mit dem Verhüten war es
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