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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
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Zimmer, schlug die Seite in dem Bildband auf. «Da!» Es war Murbach.
    Immer aufmerksamer spitzte Lukas bei unseren Unterhaltungen die Ohren, begierig lauschte er auf Konrads Geschichten aus der Schule. «Papa, erzähl.»
    Mit den Jahren hatte sich Konrad in seinem Beruf eingewirtschaftet, selbst in den Fächern, für die er weniger Talent hatte. Er kriegte es mehr oder weniger gut hin, und er machte die Dinge auf seine Weise. Der Schultag fing wie damals allgemein üblich mit dem Gebet an. Den eigentlichen Unterricht begann er mit Vorlesen oder Erzählen, je nach Jahreszeit oder nach Laune. Im Winter hat er manchmal die Deckenlampe ausgeknipst, sie haben im noch fast dunklen Klassenzimmer gesessen. «So, jetzt warten wir, bis die Sonne kommt. Sie geht rechts vom Kamin auf.» In der ersten Stunde haben sie nichts anderes gemacht, als zu gucken, wie das Licht erscheint und wandert. Kopfrechnen üben hat er auch gern im Halbdunkel gemacht, dann konzentrierten sich die Schüler besser. Ab Frühjahr hat eine getigerte Katze am Unterricht teilgenommen. Sie ist morgens durchs geöffnete Fenster spaziert, hat sich auf ein Pult gelegt, dorthin jeweils, wo es am wärmsten war, und geschlafen. Konrad ist es recht gewesen.
    An Tagen, an denen die Schüler besonders unruhig waren, ist er strengen Schrittes vom Pult zu einem gewissen Schrank gelaufen. Sofort war es mucksmäuschenstill. In dem Schrank waren Grimms Märchen und die Kinderbibel, jeder wusste, jetzt liest der Herr Weingartner gleich vor. Sein größter Erfolg in einer zweiten Klasse war mal die Josephsgeschichte. Konrad hat sich damals gerade durch den mehrteiligen Roman von Thomas Mann gefressen und hat das Geschehen so lebendig dargestellt, Palästina, Ägypten, dass niemand in die Pause wollte und alle mittags das Glockenzeichen überhört haben. Ohnehin hielt sich Konrad selten an die vorgegebene Stundeneinteilung. Bis Joseph aus der ägyptischen Gefangenschaft heraus war und wieder sein Haupt erheben konnte, dauerte es viele Tage.
    Bereits in Tonberg hatte Konrad damit angefangen, fürs Heftekorrigieren grüne statt rote Tinte zu verwenden. Grün ist nicht so entmutigend, fand er. Jetzt ging er dazu über, nicht die fehlerhaften Worte und Lösungen anzustreichen, sondern die richtigen. Am Ende eines Diktats ließ er die Schüler die Wörter zählen, und später stand dann drunter: «28 richtige Wörter von 32». Oder er schrieb im Heimatkundeunterricht falsche Sachen an die Tafel. «Der Rhein fließt nach Süden.» Oder «Johann Peter Hebel ist im Wiesental geboren.» – «So, jetzt macht ihr es richtig.»
    Manchmal kam er nicht umhin, einen Schüler nachsitzen zu lassen. Damit die Eltern es nicht merkten und auch noch böse wurden, hieß es offiziell: «Der muss mir helfen.» Landkarten sortieren war eine klassische Aufgabe. In einem Herbst schickte er mal zwei kräftige Buben mit dem Leiterwägle los, die Reste eines beim Straßenbau beschädigten Wegkreuzes zu bergen.
    Jedes Kind hatte sein Plüschtier im Klassenzimmer, das nachts dablieb und morgens wieder freudig begrüßt wurde. Es war da als Trost, zum Zeitvertreib in der Pause, je nach Bedarf. Rollenspiele machte man damals noch nicht, aber so etwas Ähnliches war es wohl, was Konrad erfunden hat. «Dein Bärle soll lesen lernen, zeig es ihm», ermunterte er einen schwachen Schüler. Streithähne hat er aufgefordert, ihre Tiere miteinander kämpfen zu lassen, damit war meistens der Dampf raus. Ihm selbst half es zuweilen, seinen Zorn zu mäßigen. Körperliche Züchtigung jeder Art, auch die kleinste, wurde von den Schulämtern und jetzt zunehmend auch von den Eltern nicht mehr geduldet.
    «Keinen Schüler berühren», war die neue Devise, «niemals», weder in den Arm nehmen noch strafen. Also streichelte Konrad den Plüschelefanten des weinenden Mädchens, zog Bärle und Meckis am Ohr, deren Besitzer etwas ausgefressen hatten. Das war oft ziemlich komisch. Dem Schulrat, der eines Tages zum Unterrichtsbesuch kam, hat diese Pädagogik überraschenderweise sehr gefallen. Ohne mit der Wimper zu zucken, berichtete Konrad am Mittagstisch, habe er sein Heft aufgeschlagen und grinsend notiert: «Anwesend: Schulrat Krause, Lehrer Weingartner, 24 Erstklässler, 24 Plüschtiere, eine Miezekatze (lebendig).»

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    September
    Auf dem Gartenboden liegen und lauschen, wie es um mich herum krabbelt und knistert – im Mai fängt es an, jetzt ist es fast vorbei. An warmen Septembertagen

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