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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
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gehen, es ist schon halb fünf.» Lukas hatte sofort bemerkt, dass das nicht stimmte. «Gell, Mama, der lügt? Es ist erst halb vier.» Vermutlich hat der Freund Fernsehen gucken wollen, «Schweinchen Dick» oder «Fury», ein Vergnügen, das für Lukas keines war. Es war seine erste große Erfahrung mit dem Getäuschtwerden, dem klassischen Leiden der Blinden.
    Unser Garten ist eines der wichtigsten Territorien gewesen, ihn auf das Leben vorzubereiten. Niemand konnte ihm dieses streitig machen, kein Mitschüler, kein Fremder, es gehörte ganz ihm. Neben der Schule, die Konrad hielt, lief meine Ausbildung. Ich selbst war ja als Kind in vieles nur so hineingestolpert, hatte in Trümmerlandschaften und auf der Alm lernen müssen, vieles hatte ich nur knapp überlebt. Lukas sollte es besser haben, spielerisch und immer ein wenig auch systematisch lernen, wie die Welt aufgebaut ist und er sich sicher in ihr bewegen kann. Pflanzen setzen, harken, gießen. Botanik von Anemone bis Zinnie. Käferkunde. Der Nutzen der Würmer. Es war eines der Mittel, ihn stark und selbständig zu machen, bevor ihm die Gesellschaft einredete, du bist kein vollwertiger Mensch.
    «Wenn von einer Blume mehr als drei da sind, darfst du sie nehmen.»
    Oft ist er allein an den Rabatten entlanggegangen, hat lange vor den Tulpen und den Iris gestanden. Welche könnten farblich zusammenpassen? Natürlich hat er sein eigenes Stückle Land gehabt, vier Quadratmeter mit Glockenblumen und Levkojen, und mit vielen hohen Stangenbohnen. Seine Hände waren manchmal so rissig und zerkratzt wie meine. In der Hochsaison mussten wir wegen der Gartenarbeit den täglichen Unterricht in Punktschrift ausfallen lassen. Zu unsensibel waren dann unsere Finger, sie haben die Pünktchen auf dem Papier nicht mehr tasten können.
    Zu Ostern, da war er sieben, haben wir Lukas ein eigenes Haus geschenkt: ein großes altes Weinfass. Möglichst weit abseits, am oberen Rand des Grundstücks, wollte er es aufgestellt haben. Dazu kriegte er einen Eimer Binderfarbe und drei, vier Farben zum Abtönen und ausrangierte Bürsten aus der Werkstatt meines Vaters. Ganz alleine mischte und malte er. Den ganzen Sommer 1970, der war ungewöhnlich warm, hat er mit dem bunten Fass verbracht, in seinem gemütlich eingerichteten Bauch, oder davor, oder «auf dem Dach». In einer warmen Nacht schlief er schon mal drinnen, abends hat er sein Essen vor der grün verhängten Öffnung eingenommen. Obendrauf hat eine Fahne geweht, von dort guckte er mit dem «Glotz» ins Hügelland – ein Pirat auf See. «Papa, feindliche Schiffe. Mama, Afrika!»
    «Eigener»! So froh wir über seine Selbständigkeit waren, sie vergrößerte, für einige Jahre zumindest, unsere Sorge um ihn. Weil ich nicht sicher war, ob er unsere Schutzbefehle wirklich beachtet, habe ich ihn an einem Nachmittag mal verfolgt. Geht er wirklich den verabredeten Weg? Blinde Mutter stellt blindem Sohn nach, später haben wir herzlich darüber gelacht. Das Ergebnis der Observation war niederschmetternd, er ging völlig andere Wege, an einem Rebhang kletterte er auf ein baufälliges Mäuerle. Ich hörte die Steine poltern und bin in fürchterliche Panik geraten. «Du hast im Krieg viel schlimmere Dinge gemacht, Magdalena», versuchte ich mich zu beruhigen. «Lass ihn doch.» Aber gerade dieser Gedanke ließ mich immer verzweifelter werden, schließlich rief ich:
    «Lukaaaas!»
    «Mama?» Nur ein ganz klein wenig erschrocken klang seine Stimme, mehr staunend.
    Es war das erste und einzige Mal, dass ich ihn mit dem Gürtel geschlagen habe. Er musste sich nackt ausziehen und in die Ecke der Dusche stellen, sodass ich seinen kleinen Popo nicht verfehlen konnte.
    Seitdem haben wir die Expeditionen ganz genau ausgehandelt.
    «Mama, ich schaue morgen den Sonnenaufgang an. Ich stehe um fünf Uhr auf.»
    «Wohin geht die Reise?»
    «Zum Haldenberg.»
    Auf einem Zettel hat er uns den Weg aufgezeichnet, schreiben konnte er noch nicht. Die Skizze war ganz und gar plausibel.
    «Gut. Wenn du aber um sieben Uhr nicht zurück bist, müssen wir dich suchen.»
    Und wirklich, er war nicht pünktlich. Wir haben ihn auf dem Hügel gefunden, im Gras sitzend, mit dem Rücken gegen einen Holzstoß gelehnt, er schlief.
    Es dauerte eine Weile, bis er richtig wach war. «Mama?»
    «Und? War es schön?»
    «Ooooo.»
    Zu seiner Enttäuschung stand die Sonne hoch am Himmel. Er hatte ihren Auftritt verpasst, schon während des Wartens auf sie war er

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