Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
erforderte sehr viel Konzentration. Deswegen durfte Lukas nicht einfach hereinplatzen. «Ich mache jetzt die Tür zu. Wenn du mich brauchst, musst du anklopfen», schärfte ich ihm ein. Erst maulte er, bald aber gefiel es ihm, die Tür seines eigenen Zimmers geschlossen zu halten. «Mama, du musst anklopfen!» Wir gewöhnten uns alle an, vor geschlossenen Türen innezuhalten. Klopf-klopf. Herein! Noch heute reden wir in der Familie von der «Zeit, in der wir das Anklopfen lernten».
Wie lange würde unsere Idylle zu dritt dauern? Lukas musste in die Schule, und er wollte es auch. 1969, im Januar, war er sechs geworden, laut Bestimmung hätte er in die Blindenschule gemusst, nach Ilvesheim am Neckar. Anderthalb Jahre zuvor hatte man uns bereits darauf vorbereitet. An einem trüben Herbstnachmittag waren Leute vom Amt erschienen, ein Lehrer, der Konrektor besagter Schule, Herr Glaser. Ihn begleitete eine Augenärztin, deren Namen unser Sohn als «Frau Rostschraube» gespeichert hat. Lukas, sonst keineswegs ängstlich gegenüber Fremden, hat instinktiv die Gefahr gespürt. Ihm waren diese Gäste vom ersten Augenblick an unheimlich – vielleicht hat er gemerkt, dass Konrad und ich nicht so ungezwungen mit ihnen umgingen. Der Besuch hat sich ihm so eingeprägt, dass Lukas Jahrzehnte später das Bedürfnis hatte, eine Kurzgeschichte darüber zu schreiben. «Mich erinnerte die Stimmung ein wenig an die Nikolausfeier in der Kinderschule: Unmittelbar gab es anscheinend nichts zu befürchten, und doch lag etwas Ungewisses in der Luft.» Konrad hat mir den Text kürzlich noch einmal vorgelesen. Beide waren wir erstaunt, wie genau Lukas sich erinnerte, viel genauer als wir.
«Recht beflissen, mit völlig ungewohnten Worten, einer Art Baby- oder Kindersprache, machte sich die ältlich wirkende Frau mit unangenehmem Geruch über mich her und redete allerhand. Derweil kamen meine Eltern allmählich mit dem Herrn in ein gemessenes Gespräch. Dieser hatte eine sehr angenehme, tiefe Stimme und stellte sich mir später sogar vor: Er sei der Herr Glaser. Das kam mir bekannt vor, davon hatte meine Mutter unlängst gesprochen. Bei uns waren nämlich Scheiben im Frühbeet kaputtgegangen, also brauchten wir einen Glaser. Nein, der Mann heißt so, sagte meine Mutter, er hat einen anderen Beruf, er ist Lehrer bei blinden Kindern. Ich fragte mich, wozu wir den denn bräuchten. Einen Lehrer hatten wir ja in der Familie, und blind war ich für meine Begriffe auch nicht.» Zwei Welten trafen hier aufeinander, das hat Lukas ganz klar erfasst.
«Jemand musste der übelriechenden Frau erzählt haben, dass ich mich für alles, was leuchtet, glitzert und durch das man hindurchgucken konnte, besonders interessierte. Bald kamen winzige Taschenlampen, Lupen, kleine Ferngläser und Brillen zum Vorschein. Die durfte ich ausprobieren, nicht ohne lästige Anweisungen. ‹Tante› sollte ich sie nennen. Ich wurde den Verdacht nicht los, dass sie eine mir nicht als solche angekündigte Ärztin sei. Ich liebte Ärzte nicht, schon gar nicht, wenn sie ungefragt an mir hantierten.»
In diesen Stunden wurden viele Tests gemacht, das ist auch Konrad und mir im Gedächtnis geblieben. Auch das hartnäckige Widerstreben unseres Sohnes, auf einige ließ er sich schließlich ein. «Auf dem Tisch erschienen allerlei mir bis dahin unbekannte Spielsachen. Am meisten faszinierte mich ein gelbes Brett, auf dem man kleine Figuren mit Stielen in Löchern feststecken konnte. So lernte ich an jenem Abend ‹Mensch-ärgere-Dich-nicht›. Auf dem gelben Brett und auch auf einigen Spielkarten, die Frau Rostschraube auspackte, waren ungewöhnlich hartnäckige Krümel zu fühlen. Ich hasste Krümelei am Tisch, schon als Kind, und versuchte, diese Verschmutzungen zu beseitigen. Das wurde energisch verhindert. Ich erfuhr, dass dies Blindenschrift sei, die ich später einmal lernen sollte. In der nächsten Zeit fiel immer wieder das Wort ‹Ilvesheim›, und meine Eltern wurden dabei immer sehr nachdenklich, ich möchte meinen, sogar traurig.»
In gewissen Abständen kamen die seltsamen Gäste wieder zur Kinderbesichtigung, nicht immer angemeldet. Zuletzt waren sie just beim Richtfest erschienen. Sie standen eine Weile auf der Baustelle herum, und wir wechselten ein paar harmlose Sätze. Buchstäblich im letzten Moment ließ sich das Schicksal abwenden. Verzögerungen beim Ausbau der Blindenschule bewirkten, dass Lukas wegen Platzmangels erst einmal doch nicht im September (der
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