Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
zurückflutenden Söldner des Diktators wollten seinen Jeep haben, schrieb später einer der Patres aus der Missionsstation, sie hätten ihn einfach rausgeschmissen und ihm mit einem Gewehrkolben auf den Kopf gehauen. Auf der Landstraße sei er langsam gestorben, verblutet, verdurstet, genau wisse es niemand, «und jetzt bei Gott». Pater Johannes Tauber ist einer der allerwichtigsten Menschen in unserem Leben gewesen. Dabei haben wir nicht mehr als dreihundert, allerhöchstens vierhundert Stunden miteinander verbracht. Ich wünsche mir sehr, dass Lukas eines Tages ein Reqiem für ihn schreibt.
Mit acht, neun Jahren war seine musikalische Begabung ganz deutlich erkennbar. Von Noten hatte er immer noch keinen blassen Dunst, alles nahm er mit seinen feinen Ohren auf und behielt es auch. Klassik, Kirchenlieder, die schmalzigsten Schlager und bitterböse Politsongs, wir beide hörten beinahe jeden Tag Musik. Der größte Hit Anfang der Siebziger war Ulrich Roskis «Schöner Wohnen», ein toller Text, den wir heute noch singen:
«Ich bin es nun leid
Beim Durchforsten der Wohnungsmarktanzeigen
Vorzeitig zu erblinden
Und doch immer das Gleiche zu finden:
Keine Hunde, Studenten und Ausländer
Keine Musikinstrumente, nur ruhiges Ehepaar ohne Kind
Ich bin es auch leid
Ins Grüne und Blaue zu reisen
In besseren Kreisen zu speisen
Wo in den raffiniertesten Soßen
Im Ganzen und Großen
Meist schamlos ein falscher Hase schwimmt
Ich kenn’ einen Ort, wo man nie diese vierziggeschossigen Dinger baut
Wo man mir nicht auf die Finger schaut
Für mich gibt’s nur eins:
Ich zieh auf den Müll.»
Das wurde unser Schlachtruf. Wenn uns irgendwas nicht gepasst hat, riefen wir: «Ich zieh auf den Müll.» Das war für uns das wahre Leben! «Kein Wecker, der schellt, kein Köter, der bellt. In meinem Idyll. Und wer mir mal schreiben will, kann», bei dieser Zeile lachte sich Lukas jedes Mal kaputt, «wirf den Brief in den Gully, dann kommt er schon an.» Die Platte ist total verkratzt, weil ich immer probiert habe, an dieser Stelle neu anzusetzen. «Nochmal, Mama, nochmal!»
Selber musizieren wollte er! Und zwar auf Tasten, nichts anderes. In unserem Haushalt aber existierte lange Zeit kein Klavier, bloß das besagte «Organettele». Kein Musiklehrer am Ort, das war das nächste Problem. Konrad hat das Gebiet bis zur französischen Grenze abgegrast, weit und breit keiner, der sich diese Aufgabe zutraute. «Ja, wenn der Bub die Noten sehen könnte …», denen fehlte das pädagogische Besteck.
Das einzig greifbare Klavier war bei den Großeltern in Freiburg, ein ziemlich verstimmtes, uraltes Ding. Darüber machte sich Lukas, der ansonsten nicht gerade gern dort zu Besuch war, mit Begeisterung her. Nur leider stand es im Fernsehzimmer, und wehe, der Opa wollte was gucken, dann ist der Klavierdeckel auf die Hände des Kindes herniedergesaust. Kein Kommentar, Fernseher an und «Klappe halten!». Es galt das Gebot, Fernsehen ist wie Andacht, da darf man nicht schwätzen. Lukas hat es geradezu gehasst, selbst Kindersendungen. Diese grieseligen Bilder in Schwarzweiß, die er kaum sah, und der scheppernde Ton haben ihn abgestoßen. Der Fernseher war sein Urfeind.
Einmal hat er partout nicht mit den Großeltern spazieren gehen wollen, die Oma lockte ihn heraus mit dem Versprechen: «Wenn du lieb bist, dann kommt danach das Heidi.» – «Jaaaaaaaaaaaa!» Lukas hatte «Haydn» verstanden und freute sich auf das Konzert, wieder mal ins Freiburger Münster zu kommen, wo sonst sollte es sein, und ließ sich willig die unbequemen Sonntagsklamotten umhängen. Wieder angekommen in der Erasmusstraße ist er im Mantel vor der Tür stehen geblieben. «Wir gehen ja gleich zu Haydn.» Mit einem Hähähäää warf mein Vater die Fernsehkiste auf der hohen Kommode an. «Heidi» als Zeichentrickfilm, eine brandneue Serie aus Japan mit viel süßlicher Musik und sehr textarm, weswegen die Oma Lukas hier und da erklärt hat, was gerade passierte. «Heidi pflückt Blumen. Schau, jetzt lacht das Heidi.» Bei seiner Rückkehr nach Sonnenmatt erzählte er uns davon, wutschnaubend. An eine Äußerung im Film erinnert er sich bis heute: «Der Geißenpeter sitzt da und hat ein schlechtes Gewissen.» Ein Satz, der einsam und frei in der Berglandschaft steht, ohne jeden Zusammenhang.
Orgel spielen, darauf lief bei ihm alles hinaus. Bei den heimatkundlichen Sonntagsausflügen hat Konrad das Interesse seines Sohnes im Auge gehabt. Meist waren es Bekannte
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