Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Geräusch, nicht die Marke, nicht den Typ, die Farbe manchmal, die hat er sich gemerkt, aber er hätte auf der Straße zielsicher den Fahrer, den er nicht sah, begrüßen können: «Guten Morgen, Herr Boll!» Lustige Töne haben die motorisierten Zweiräder abgegeben, «petpetpet» machten sie, andere «oioiiiiing-oioiiiiing». Sogenannte «Rossfudlespalter», keine Ahnung, ob das Dorfjargon oder eine Erfindung von Lukas war. Pferdeäpfelteiler, ein herrliches Wort, ich kenne kein anderes, das diese Übergangszeit so bildhaft beschreibt. Die Pferde sind noch da, und der Mensch gerade frisch motorisiert. «Mama, da kommt wieder ein Rossfudlespalter!»
Wir waren heimisch geworden in den Geräuschen von Sonnenmatt, in dem Schnauben und Muhen und Meckern, dem unverschämten Krähen der Hähne mitten im Dorf, dem «Büsi-büsi-büsi», mit dem die Nachbarin ihre Katzen lockte. Vertraut mit den Schritten der Dorfbewohner, vom Postboten angefangen bis zur hinkenden Frau Schmitt, die dienstags beim Bürgermeister putzte und ihr Fahrrad, das mit dem schleifenden Dynamo, bei uns abstellte. Wir kannten, was wir hörten, Menschen, Tiere, selbst die Maschinen, anfangs noch so etwas wie Individuen, gering an Zahl und auch wegen ihrer Macken, der oft tölpelhaften Fahrweise ihrer Besitzer. Noch bevor Lukas erwachsen war, hatten die Maschinen Sonnenmatt erobert.
Ein dramatischer Wandel, der sich beinahe unauffällig vollzog, in einem Zeitraum von zehn, höchstens fünfzehn Jahren. Ackerbau und Viehzucht lohnten sich immer weniger, sie starben aus. Im Weinbau blieben am Ende noch ganze zwei Vollerwerbsbetriebe übrig. «Flurbereinigung» hieß der Vorgang, das Hauptthema vieler Artikel, die ich damals schrieb. Konrad war übrigens – wieder so ein Lehrerjob – einer der beiden Unparteiischen, die bei der Zusammenlegung der handtuchgroßen Stückle mitwirkten. Anschließend das Planieren der Hänge, um sie maschinengerecht zu machen, Anlage von neuen Zufahrtswegen. Jahrhundertealte Wegkreuze wurden kurzerhand auf Tieflader gepackt und versetzt. Lautstark – und seitdem hörte der Maschinenlärm nicht mehr auf.
Wer hier bleiben wollte, musste jetzt woanders arbeiten, mit einem Bein also in der Stadt leben, in Freiburg, in Basel. Von dort wiederum zogen Leute hierher, plötzlich waren viele Fremde in Sonnenmatt: Manager und Ingenieure von Hoffmann La Roche, Ciba, IBM, Ruheständler mit viel Geld und Doktortitel, die Swimmingpools in ihre Gärten bauen ließen und sonntags zur Gottesdienstzeit Rasen mähten. Immerhin verschwand Sonnenmatt deswegen nicht wie andere Dörfer von der Landkarte, es wuchs im Gegenteil auf 650 Einwohner an. Zwischen den echten Sonnenmattern und den Neulingen gab es vielerlei Reibungen. Wer passt sich wem an? Letztendlich siegte die städtische Lebensweise.
Manches lebte noch ein wenig weiter: alte treue Beziehungen, Gewohnheiten wie das gemeinschaftliche Rebholzsammeln. Der Schmerz um das Verlorene natürlich, der vor allem, unstillbar bei manchen, teils mit produktiven, zuweilen sogar kuriosen Folgen. Es entwickelte sich zum Beispiel eine neue, bis heute anhaltende Leidenschaft für ein Nutztier, das es früher im Dorf nicht gab: das Kaninchen. Viele alte Bauern züchten Kaninchen in den aufgelassenen Ställen und vertreiben sich so die Langeweile. Mit einer kleinen Sichel laufen sie in der Landschaft herum, Löwenzahn, Wegerich und Gräser schneiden. Das Füttern, das Misten, das Kümmern überhaupt, sie können nicht davon lassen, Viecher zu haben. Töten, abziehen, ausnehmen. Verkaufen für ein paar Euro, ein Taschengeld, wenn sich denn ein Kunde findet. Wie Konrad sitzen sie stundenlang vor dem Käfig und schauen, was die Tiere da treiben. Springt der Bock, springt er nicht?
In gemilderter Form erlebten wir diesen Verlust auch. Wir hatten uns verkalkuliert, zumindest hinsichtlich des Tempos der Veränderung. Es ging schnell, viel schneller, als wir erwartet hatten. Prognosen für die Welt von morgen? Für Lukas’ Zukunft? Hinterherlaufen? Wie denn? Wir waren verunsichert – und haben weitergemacht wie bisher, uns fiel nichts anderes ein als das. Die Liebe ist das Wichtigste, so oder so, was immer passiert, dachten wir. Oder?
Einmal im Oktober sind wir zusammen mit Lukas durch die Weinberge gelaufen. Konrad wollte das Gelände inspizieren, das gerade im Umbau war, schon planiert, aber noch nicht neu mit Reben bestückt. Am Vortag war ein Gewitter niedergegangen, heftig und furchterregend, wie wir
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