Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
in Sonnenmatt noch keines erlebt hatten, mit Überschwemmung im Tal, fast bis zu unserem Haus. Unheimlich viel Wasser ist in kürzester Zeit runtergerauscht, nicht wie früher plopp-plopp, von Terrasse zu Terrasse, sondern wusch, in einem Schwall. Zwei Meter tiefe Gräben hat es gerissen, beschrieb Konrad, fünf oder sechs, über den ganzen Südhang verteilt. Er rannte ein Stück voraus, immer weiter, wir haben schon geglaubt, wir hätten ihn verloren, und dann hörten wir ihn aus westlicher Richtung schreien. «Mein Treppenwegle!» Sein Wegle, das er gern als Abkürzung nahm, ein Rest nur, den die Flurbereinigung übrig gelassen hatte, war von der Flut auseinandergesprengt worden.
Plötzlich ließ sich Lukas auf den Boden fallen. «Mir ist langweilig mit euch.» Ganz unrecht hatte er nicht.
«Na ja. Bald sind wir zu Hause.»
«Warum hab ich keinen Bruder und keine Schwester?»
«Dein Papa hat nur zwei Hände», sagte ich. «Du brauchst eine Hand, und ich brauche eine Hand.»
Mit dieser einfachen, logischen Antwort war er zufrieden. Vielleicht hätte er entgegnen können, der Papa könne ja noch einen auf den Buckel nehmen, ihn oder mich oder das andere Kind. Darauf wäre mir nichts mehr eingefallen.
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Gegen den Strom
Kein zweites Kind!
Wir wussten es, und wir wollten es doch nicht wahrhaben, ich vor allem. «Sie dürfen das nicht!», sagten die Ärzte kategorisch. Nicht nur aus dem einen gewichtigen Grund, sondern auch weil durch die schwere Geburt von Lukas Verwachsungen da waren, jede weitere Schwangerschaft wäre «hochriskant» für mich. In einem Winter, wir waren schon im neuen Haus, hab ich sehr viel geblutet. Bei einem Spaziergang im Wald habe ich mich sehr erschrocken, ich musste ganz plötzlich pinkeln, und als ich aufstand, war es unter mir rot, ein tellergroßer roter Fleck im Schnee. Daraufhin bin ich in die Freiburger Universitätsklinik gefahren.
«Sie haben abgetrieben!», brüllte der Gynäkologe mich an. Ich lag auf dem Stuhl, Beine breit. «Geben Sie es doch zu!» Dieser Doktor, der mir nicht einmal die Hand gegeben hatte, führte sich auf wie der Großinquisitor.
«Nein, hab ich nicht!»
«Sie haben abgetrieben!»
Die Diskussion um die Abschaffung des Paragraphen 218 (der Abtreibung unter Strafe stellte) war gerade im Gange. Frauen rebellierten, eine große Bewegung war im Entstehen, ihre Parole: «Mein Bauch gehört mir!» Und Ärzte, männliche zumeist, stellten sich ihnen entgegen. Mit alldem hatte ich nichts zu tun, wirklich gar nichts, und an dem Tag wurde ich von einem Dreckspatz von Doktor hineingezogen in diesen Krieg.
«Sie haben abgetrieben. Leugnen Sie nicht!»
Bloß runter vom Stuhl! Wie ich es geschafft habe, mich aus der elenden Lage zu befreien, ohne zu stürzen, ohne zu stolpern, weiß ich nicht mehr.
Ich durfte keinesfalls schwanger werden. Wir haben uns in allen Verhütungskünsten geübt. Wenn es so weit war: «Ho!» Spritzen, aber daneben. Ich für meinen Teil habe dies nicht so gemocht, dieses Mit-dem-Verstand-ins-Bett-Gehen. Da sind mir die Nebenformen der Leidenschaft lieber, und davon gibt es viele. Oft hab ich in Zeitschriften gestöbert, manches hat Konrad auch gelesen, wir haben gemeinsam die Bilder studiert. Vor allem die «Bravo» war eine große Hilfe. Eigentlich war sie für Jugendliche gedacht, aber wir waren ja so verklemmt und mit fürchterlichen Schuldkomplexen aufgewachsen, zu Hause und im Internat, wir konnten diese Aufklärung wirklich gebrauchen.
Die körperliche Nähe haben wir erst jetzt voll genossen. Dass dieses Lustgefühl, das uns zusammentreibt, nicht Sünde ist, sondern Freude. Dieses große Erstaunen übereinander und auch das Ausprechen-Können, wir mussten ja auch die Sprachlosigkeit überwinden – das war so schön. «Spritzen», das ist ein tolles Wort. «Du! Wart noch a wengele.» Wie alle jungen Paare sind wir in den Sexfilm von Oswald Kolle gerannt, während eines Freiburgbesuchs sahen wir «Das Wunder der Liebe» im Kino – und waren sehr enttäuscht, wenig Wunder, viele Fachbegriffe. Von den Bettszenen hab ich natürlich nicht viel mitgekriegt. Konrad neben mir schien gelangweilt, er schlief zwischendurch sogar ein.
«Geschlechtserziehung» war eines dieser neuen kühlen Wörter, die mir nicht gefielen. Den Gedanken jedoch, dass man Kinder aufklären sollte, und zwar frühzeitig, fand ich richtig. «Wie kommen die Babys?», hat Lukas schon mit sieben gefragt. «Weißt du, das lernst du von selber»,
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