Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
irgendwelchen Geschichtsereignissen herumgekaut. Heute würde man sagen: Lukas hatte einen Kulturschock. Und wurde vorübergehend fast wieder zum Kleinkind.
«Mamaaaa.» Er sagte es so jämmerlich. Am liebsten hätten wir ihn zu Hause behalten, doch damit hätten wir gegen geltendes Recht verstoßen. Auch Lukas wusste das, er hat uns nie darum gebeten. Montags in der Frühe, Punkt halb fünf, brach er auf, mit seinem Köfferchen voll frischer Wäsche. Konrad brachte ihn mit dem Auto zum Müllheimer Bahnhof. Umsteigen in Freiburg konnte er alleine, das allerdings durfte man in der Blindenschule nicht wissen – Verletzung der Aufsichtspflicht, hätte es sofort geheißen. Offiziell hatten wir der Schulleitung kundgetan, Lukas werde nach Basel gebracht in den durchgehenden Zug bis Mannheim. Dort holte ihn jemand von der Blindenschule mit dem Auto ab. Sein höchstes Glück: Zugverspätung, Anschluss verpasst. Ein Montag ohne Punktschrift, mit mehr Glück sogar ohne Sport.
Nach einiger Zeit konnte er darüber reden, am Wochenende ließ er bei uns gehörig Dampf ab. Dauerthema und ständiges Ärgernis war, dass er nicht rausdurfte, ohne Genehmigung eines Erwachsenen durfte kein Schüler das Gelände verlassen. Gepunktete Armbinden waren Pflicht, an jedem Arm eine, der weiße Stock auch. Man musste erst mühsam eine Erlaubnis erwerben, also mit einem Mobilitätstrainer in der Ortschaft Ilvesheim diverse Wege üben, Straßen, Ampelübergänge, die Bushaltestelle finden. Eine kleine Prüfung absolvieren, für Lukas läppisch, er konnte längst in jeden beliebigen Laden gehen, Briefmarken oder Süßigkeiten kaufen. Wie benimmt er sich, wurde begutachtet. Kann er mit der Bedienung klar und höflich reden? Ausgangserlaubnis B kriegte er schließlich, für Ilvesheim. Keine Chance für Ausflüge ins Umland, per Straßenbahn nach Mannheim zu gelangen, was für ihn ein Leichtes gewesen wäre. Tatsächlich konnten das viele Mitschüler nicht, die waren so gehemmt oder unterm Deckel gehalten, die bewegten sich möglichst nicht vom Fleck. Von «armen Kinderle» berichtete Lukas, die den ganzen Tag nichts anderes taten als Musik aus dem Kassettenrecorder hören.
Alleinsein war auch so ein Thema. «Ich geh noch eine Stunde in den Biogarten.» Ordnungsgemäß hatte er sich bei seiner Erzieherin abgemeldet, der Biogarten war die entlegenste Stelle auf dem ganzen Gelände, dort konnte er die ersehnte Ruhe finden. Kaum war Lukas fort, ging in der Schule Ringalarm los. Wo ist der Weingartner schon wieder? Danach wurde er zur Schulpsychologin zitiert, die ihn fragte, ob er denn Selbstmordgedanken habe. Bei uns in Sonnenmatt rief sie auch an: «Ihr Sohn ist suizidgefährdet.» Vorsichtig versuchte ich ihr zu erklären, dass Lukas darunter leide, dass er dauernd beobachtet werde.
«Stellen Sie sich doch mal vor, bei Ihnen würde jeder Pups registriert.»
«Frau Weingartner, Sie haben Ihren Sohn falsch erzogen.»
Von da an war ein Graben zwischen uns und der Schule. Tun konnten wir nichts, außer Lukas ein wenig zu helfen, dort auszuhalten, indem wir selbst an den Wochenenden die Fassung bewahrten und sie so unaufgeregt und angenehm wie möglich gestalteten. Wir ignorierten, wenn er maulig war, seine Internatsmarotten.
Am bittersten für ihn ist die Orgelgeschichte gewesen. Der Lehrer ließ ihn «Hänschen klein» üben, lauter kindische Sachen. Dabei hatte Lukas, wie der Lehrer wusste, zu Hause schon ganze Gottesdienste begleitet. Wenn er wenigstens außerhalb des Unterrichts mal in die Aula gedurft hätte zum Spielen! Verboten, alles verboten. Klar, dass er Blindennotenschrift lernen musste, das war neu und schwierig, die Hand, mit der er auf dem Papier herumtastete, konnte er ja nicht zum Spielen nutzen. Diesem alten Haudegen von Lehrer schien es an pädagogischer Phantasie zu fehlen. Nach Gehör spielen? Nein! Lukas hätte mit seinem kleinen Sehrest durchaus noch gedruckte Noten lesen können. Nein!
Ohne Lukas zu leben war schwer. Anfangs war diese Leere im Haus schrecklich, wir waren einsam, und tageweise richtiggehend zornig. Warum so früh ein Kind hergeben? Konrad hatte wenigstens seine Schule, begegnete täglich Kindern. Mittags wartete ich darauf, dass er Geschichten mitbrachte. «Mehr, Konrad! Das kann doch nicht alles gewesen sein!» Mit der Zeit wurde das ausführliche, vertraute Gespräch über seine Schüler zur schönen Gewohnheit.
«Der Weingartner will immer die Kleinen unterrichten!», hatten früher einige im Dorf
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