Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
habe ich zu ihm gesagt. «Dein Pinkele, das kann noch mehr als Wasser rauslassen.» Wie jeder Bub hatte Lukas Freude an seinem Strahl, daran, einen großen Bogen zu pinkeln. «Wenn das richtig groß und fertig ist, das bleibt nicht so ein Stöpsele, das wird dick und mächtig. Und da gibt es bei der Frau ein Löchle, da passt es genau rein. Und dann, wenn es drin ist, hat man sich arg lieb.» Ihm hat das gereicht, er hat lange nicht weitergefragt. Er konnte ja nicht wie andere Kinder irgendwo zufällig ein Paar beim Küssen ertappen oder, wie auf dem Land üblich, beobachten, wie der Bulle auf die Kuh springt. Trotzdem hat er, soweit ich weiß, das meiste selber entdeckt.
«Eltern müssen ab und zu allein sein.» Wenn Konrad und ich das wollten, sagten wir Lukas das. Für eine Stunde dürfe er jetzt nicht in unser Zimmer kommen. Sein Kommentar: «Ach, ihr macht wieder Nacht.» So nannte er das, weil wir immer die Rollläden runterließen. «Sie sind nicht zu sprechen», sagte er mal zu jemandem, der an der Haustür klingelte, während wir unser Schäferstündchen hielten. «Sie eltern sich.»
«Ilvesheim», der Name des Ortes fiel jetzt immer öfter, bei den regelmäßigen Besuchen von Herrn Glaser, dem freundlichen Botschafter der Blindenschule, und auch sonst. «Fein, du wirst in Ilvesheim keine Probleme haben», sagte Herr Glaser. Er war mit Lukas’ Fortschritten im Lesen und Schreiben der Punktschrift sehr zufrieden.
«Wo ist Ilvesheim?»
«Weiter weg als Freiburg. Und weiter als Herrenschwand.»
«Noch weiter?»
«Am Fluss Neckar.»
In den Erklärungsnöten kam uns ein Zufall zu Hilfe. Alle paar Monate erschien in der Schule ein Mann, der die Klos gründlich desinfizierte und aus der Nähe von Mannheim kam, den dortigen Dialekt redete. Über ihn lachten die Schüler, sie verstanden vom Kurpfälzischen kaum ein Wort. «So wie der schwätzt, so klingen sie dort, wo du hinkommst.» Noch nie war Lukas an einem Ort gewesen, an dem eine andere Sprache regierte, und er verstand jetzt, dass Ilvesheim «sehr weit weg» sein musste. Darauf schien er durchaus neugierig zu sein. Vor anderen mimte er den Großkotz, den Jungen, der eine ungewöhnliche Reise tun darf.
«Dort kriegst du endlich Orgelunterricht!» Mit dieser Aussicht köderten wir ihn. «Da ist ein blinder Musiklehrer.» Das war das Beste überhaupt an Ilvesheim.
Weil wegen der Schulzusammenlegungen die dritte und vierte Klasse aus Sonnenmatt in ein benachbartes Dorf verlegt wurden, musste Lukas im letzten Grundschuljahr pendeln. Zehn nach sieben am Bus sein, dreißig Minuten Rumkurverei, denn von überall mussten Kinder eingesammelt werden. Lukas freute sich vor allem, dem Vater entronnen zu sein. Der neue Lehrer war ein alter, herzensguter Mann, der sich auf ihn einstellte.
Der Sommer vor dem Abschied verging ohne besondere Ereignisse. Lukas und ich «oblomowten», das heißt, wir haben haben viel gefaulenzt. Von der Romanfigur «Oblomow», dem russischen Adeligen, der träge und schläfrig die Tage verbringt, hatte ich ihm schon vor langer Zeit erzählt. «Mir ist so oblomowig», war unser Signal zum Mittagsschlaf. «Ich oblomowe, du oblomowst, Papa oblomowt», das schöne Wort ließ sich konjugieren. Noch einmal spielten wir unsere alten Spiele, bis der Tag da war, an dem er weggebracht wurde. Ein kurzes Adieu, niemand von uns dreien weinte.
Alle vierzehn Tage kam er zum Wochenende nach Sonnenmatt. Viel war aus ihm nicht herauszukriegen, er war ziemlich schweigsam. Von einer Erzieherin kam telefonisch ein Alarmsignal: «Ihr Sohn ist Bettnässer!» Lukas habe Zornanfälle, er liege auf dem Boden, und niemand komme dann an ihn heran. Allmählich reimten Konrad und ich uns zusammen, was da in Ilvesheim passierte. Vom Internatsleben war er anscheinend total überfordert. Plötzlich waren lauter Kinder um ihn herum, auch nachts, und keine Rückzugsmöglichkeit. Eine Schulkaserne – Wohngruppen, in den Waschräumen Becken an Becken. So ein Heim ist ein Getriebe, in dem man funktionieren muss, ein selbständiges, freiheitsliebendes Kind, das viel fragt, stört. Leider war der uns bekannte, geschätzte Herr Glaser, an den wir uns hätten wenden können, nicht mehr da.
Im Unterricht wiederum war er unterfordert, denn die Blindenschule war de facto eine Sonderschule. Während Lukas mit den vier Grundrechenarten ankam, waren dort viele Schüler, teils mit Mehrfachbehinderungen, auch geistig schwache, in der Fünften noch immer beim Addieren. Ewig wurde an
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