Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
gelästert. «Kann der den Stoff für die Großen nicht?» In der Tat waren für Konrad die ersten Jahre die wichtigsten, er konnte die Schüler noch erziehen, Disziplin, Sorgfalt, meinte er, lerne man am Anfang oder nie. Jetzt waren nur noch die erste und die zweite Klasse in Sonnenmatt übrig, die höheren waren im Nachbarort. Ihm war es gerade recht.
Weiterhin machte er Unterricht im breitesten Alemannisch, sogar Rechenaufgaben hat er im Dialekt erklärt. Völlig ungekünstelt, oft ohne Bücher, bewegte er sich durch den Lehrstoff. Er holte biblische Geschichten ins Markgräflerland. Die Trompeten von Jericho? Stellt euch vor, wenn das Sonnenmatter Musikorchester um die Winzergenossenschaft herummarschiert und so laut spielt, dass die Mauern umfallen. In vielen Gleichnissen des Neuen Testaments kamen Reben vor, also begann Israel gleich an den Rebhängen, hinterm Dorf.
In den Siebzigern fing es an mit den Tests: Einschulungstests, Legasthenikertests, IQ-Tests. Konrad wurde dazu vom Schulrat verdonnert, «Sie machen das, Weingartner!» Purer Blödsinn war das, man kannte doch die Kinder im Dorf persönlich, die Frechen, die Neunmalgescheiten, die Linkshänder, die Langsamen, und langsam waren viele, die Angsthasen. Man wusste, wer hinkte und wessen Vater soff. Jeder Sechsjährige, der allein aufs Klo gehen kann, wird eingeschult, «fertig ab», war Konrads Devise. Die Testbogen ausfüllen zu lassen, darum kam er nicht herum. Einige Mädle und Buben hatten solche Angst davor, dass sie nicht mal den Stift in die Hand nahmen. Die besuchte er dann zu Hause. Einen Franz, der sich mit seinem Hund unter den Tisch verkrochen hatte, hat er mal zwei Stunden gelockt, bis der überhaupt rauskam. Die ausgefüllten Bogen wertete Konrad allerdings nicht aus. «Sie liegen dahinten auf der Bank», sagte er zu der Ärztin vom Gesundheitsamt, «wenn Sie wollen, gucken Sie rein. Ich tu es nicht.»
Sie war erschienen, um die Schulanfänger zu untersuchen, stehen sie gerade, lispeln sie vielleicht, und gegebenenfalls auszusortieren. «Sag mal ‹Schüssele, Schüssele›. Sag mal ‹Sternle›. Kannst du das?» Derweil haben die Mütter draußen vor der Tür gestanden und sich gesorgt. Sie sind so aufgeregt gewesen, dass Konrad mich bat, beim nächsten Mal in die Schule zu kommen und die Wartenden ein wenig abzulenken. Jedes Kind, das rauskam, wurde bestürmt. «Was hett sie gsagt? Hesch du’s au richtig gemacht?»
Bei schwachen Schülern bestand Gefahr, dass sie, wenn nicht jetzt, dann später, auf die Sonderschule mussten. Sehr schnell hat Konrad einen praktikablen Weg gefunden, wie man sie davor bewahren konnte: indem man bei den betreffenden Kandidaten, die entweder zu langsam oder nicht helle genug oder verhaltensauffällig waren, einen gewissen Intelligenzquotienten eintrug, er musste unbedingt über 95 liegen, und zugleich eine Schwäche im Lesen und Rechtschreiben bescheinigte. «Legasthenie» war die rettende Diagnose. Diese Schüler durften nämlich im Dorf bleiben, sie kriegten lediglich Förderstunden. Sonnenmatt dürfte in den siebziger und achtziger Jahren, dank Konrad, die höchste Legasthenierate Badens gehabt haben. Einer seiner «Legastheniker», ein Mädle, ist später übrigens Chefin der Malerinnung in einer großen Stadt in Norddeutschland geworden.
Dann kamen die Türken. Durch die Erfahrung mit Lukas und mir hatte Konrad besonderes Verständnis für Schüler mit Handikaps, und er hatte viele Möglichkeiten, sie zu unterstützen. Vom Sommer bis zum Herbstanfang hat er die Familie jedes Erstklässlers besucht, meistens hat er bei den Türken angefangen, die ersten waren gerade in Sonnenmatt angekommen. «Der hat die Türken lieber als uns», hieß es im Dorf.
Der erste Schultag wurde groß gefeiert, mit einem Ritual, das ich mir ausgedacht hatte. Morgens wurden die Schüler der zweiten Klasse mit Sonnenblumen ausgestattet, und wir zogen durchs ganze Dorf und holten die neuen Erstklässler ab. «Komm raus, komm raus zu uns!», wurde vor der Tür gesungen und das Kind in den Kreis aufgenommen, sein Ranzen mit einem Sträußle geschmückt. Es bekam sein Lesebuch überreicht, und weiter ging der Umzug.
Immer mehr Neues strudelte in die Schule. AGs, Arbeitsgemeinschaften, sollten gegründet werden. Heimatkunde-AGs, Gartenbau-AGs. «Machen Sie doch eine Theater-AG», riet der Schulrat dem völlig überlasteten, murrenden Konrad. «Ihre Frau kann doch Theater spielen. Und Sie kriegen dafür Stundenermäßigung.»
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