Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Damit war ich auch offiziell so etwas wie eine Nebenlehrerin. Mit dem Segen des Schulrats, versicherungsrechtlich wohl kaum. Wehe, wenn was passiert wäre! «Ich bin immer mit einem Bein im Gefängnis», sagte ich vor jedem neuen Projekt. «Ihr müsst gut aufpassen, Kinder.»
Als Erstes haben wir den «Kalif Storch» gespielt. Ein Mädle, das an den Folgen einer Hirnhautentzündung litt und sich schulisch schwertat, sollte den Gelehrten Selim spielen. «Was ist, wenn ich steckenbleibe?» Also habe ich eine neue Rolle geschrieben, Selim kriegte einen Diener an die Seite, der notfalls soufflieren konnte, und der war ich. Im Herbst haben wir gräusliche Vogelscheuchen gebastelt, im Januar und Februar Kostüme für die Fasnet. Dreizehn Jahre hab ich die AG gemacht, immer gemeinsam mit Konrad überlegt, wer, wie, was. Ein «Husband-and-wife-team» sagt man in Amerika, dies Wort passt gut auf das, was wir machten.
Auf manche Veränderungen reagierte Konrad nur genervt. Eine Reform jagte die nächste – seit in Deutschland die «Bildungskatastrophe» ausgerufen worden war, wurde beinahe jedes Jahr alles umgekrempelt, von der Hauptstadt bis in die entferntesten Dörfer im tiefsten Hotzenwald. Mengenlehre! Statt Zählen und Rechnen lernten die Kinder, bunte Klötzchen zu verschieben. «Wie geht es denn so damit, Herr Weingartner?», erkundigte sich der Schulrat. «Na, kommen Sie mal, Herr Krause, und schauen Sie sich das an.» Wie immer erschien Krause unangemeldet. Achtundvierzig Kinder haben brav ihre Klötzchen auf die Pulte gepackt, sie fielen runter, wurden aufgehoben, klack, klack, bums. Die Schüler, wohlerzogen, halfen sich gegenseitig dabei. Bums, klack, das dauerte, ein Höllenlärm. Nach einer Viertelstunde hat der Schulrat fluchtartig die Klasse verlassen. Beim nächsten Besuch auf dem Schulamt in Lörrach fragte die Sekretärin Konrad: «Was haben Sie denn mit dem Krause gemacht? Er hat mich beauftragt, die Klasse sofort zu teilen.»
Umbruchzeiten – und wir hatten gleich zwei Fronten. Wochentags Sonnenmatt, Samstag und Sonntag Lagebericht aus Ilvesheim. «Die Frau Kienle verspottet mich, weil ich weiße Unterwäsche hab. Du hast wohl bürgerliche Eltern.» Das Wort «bürgerlich» sagte Lukas nichts, er war schlicht und einfach beleidigt. Ein Mitschüler hätte aus Verzweiflung seine weißen Unterhosen zerschnitten und in den Müll geschmissen. Ich besänftigte ihn: «Dann kaufen wir halt ein paar farbige. Die sind auch schön.»
Von dieser jungen Erzieherin, die frisch von der Uni kam mit lauter revolutionären Gedanken, war oft die Rede. Ihr müsst den Eltern nicht folgen, impfte sie den Kindern ein. Ordnung ist spießig! Eigentum ist Diebstahl! Zu klauen gehörte jetzt zum guten Ton. Ein Kind durfte dem anderen den Recorder wegnehmen, der ging kaputt, daraus entstand Streit, und dann schmissen sie, ohne dass jemand eingriff, mit Gegenständen um sich. Am allerliebsten mit Knautschsäcken, das waren die Sitzmöbel jener Tage, zum Kämpfen prima geeignet. Wer nicht sieht, kann andere böse verletzen. An einer Blindenschule war diese neue antiautoritäre Pädagogik, die sicherlich auch ihre guten Seiten hatte, völlig absurd. Ein blindes Kind anstiften, in einem Laden Bonbons zu klauen?
Wir waren ganz bestimmt keine Reaktionäre, mit einer freieren Erziehung waren wir sehr einverstanden, aber die Schlampigkeit haben wir abgelehnt, vor allem auch die Großmäuligkeit der Jungen. «Was ihr mit den Kindern macht, ist Vergewaltigung», solche Worte fielen immer wieder. «Ihr seid aus dem vergangenen Jahrhundert!» Der Lieblingssatz besagter Erzieherin. «Antiquiert», kurz gesagt. Dagegen haben wir uns gewehrt. Zu viel einmischen durften wir uns allerdings in Ilvesheim nicht, das hätte Lukas geschadet.
Zumal zwei Erzieherinnen für ihn zuständig waren, die eine das Gegenteil der anderen. Die junge revolutionäre und eine ältere, sehr strenge, «wie ein Kleiderschrank», die selber Mutter von sechs Kindern war und die Wohngruppe wie eine größere Familie regierte. Mittags um zwölf war Schichtwechsel, sprich Regimewechsel. Man müsse sich genau merken, wer wann dran sei, berichtete Lukas. Bei der einen sich möglichst nicht waschen und kämmen, damit man kein «Spießer» war. Bei der anderen besonders gründlich waschen und jederzeit auf Kontrolle gefasst sein. «Ihr habt ja noch Gries in den Augen!» Mit der konservativen Erzieherin kam er letztlich besser aus, bei ihr fühlte er sich ganz gut
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