Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
ohne vorgeschriebene Linien wie in der Schule, war damals mein Traum. Malerei studieren würde ich nicht dürfen, das ist viel zu teuer, es gibt ja nicht mal genügend Papier. Aber es wäre doch herrlich, die ganze breite Schlossbergstraße von ganz oben bis unten zum Schwabentor vollzumalen! Man müsste natürlich ein wenig aufpassen, dass einem die Leute nicht auf den Fingern stehen. Farben habe ich mehr als genug in unserer Werkstatt. Alles umsonst! Nicht mal Miete an den Großvater müsste ich als Malclochard zahlen, eine Brücke ließe sich gewiss finden.
Warum nicht? Solche Menschen, die unabhängig leben, gab es. Ich kannte sie aus meinen Büchern. Robinson auf seiner einsamen Insel, «Heidis Lehr- und Wanderjahre» liebte ich, Lisei aus Theodor Storms «Pole Poppenspäler», sie waren meine eigentlichen Spielgefährten. Die Lisei vor allem war mein großes Vorbild, ein schwarzhaariges Mädchen, genauso alt wie ich, das mit seinen Puppenspielereltern über Land fährt. Eines Tages würde ich nicht mehr Malclochard sein und stattdessen mit einem Wanderzirkus umherziehen. Eines Tages würde bei einer Vorstellung ein Paul auftauchen, ein Junge, der mich nicht verachtet, der wie ich begeistert ist von diesem fahrenden Leben.
Lesen zu können war ein Triumph. Schon mit sieben konnte ich es fließend, wenn auch sehr langsam, und verbrachte seitdem einen Großteil meiner Zeit damit. Jedes erreichbare Gedruckte riss ich mir unter den Nagel, oft Schularbeiten vortäuschend: Lexika, Groschenromane, Zeitungen und mancherlei, was von den Erwachsenen versteckt wurde. Es galt als gute Erziehung bei einfachen Leuten, Bücher, die sie selbst nicht verstanden oder die etwas freizügiger waren, wegzuschließen.
«Deine Nase ist schon wieder schwarz, Magdalena.»
In Heimlichkeiten war ich groß, mein Problem war allerdings das Spurenverwischen. Beim Marmeladenaschen ging meist ein Tropfen daneben. Schlich ich ins Schlafzimmer, um aus dem Ofenloch, wo unsere Fettvorräte aufbewahrt wurden, Margarine zu lecken, blieb garantiert etwas davon an der Ofentür hängen. Oder eben die Druckerschwärze an der Nase, die mein heimliches Schmökern verriet.
In den Büchern suchte ich, was ich sonst vermisste, was im wirklichen Leben nicht glücken wollte – vor allem mit anderen Kindern. Meine jüngere Cousine Ricki hat mich nie mit ihren Puppen spielen lassen. «Du machst sie kaputt», schrie sie, sobald ich mich näherte. Sie hatte gesehen, dass ich zu Weihnachten der Puppe, die ich vom Christkind bekommen hatte, mit Mutters Schneiderschere zu Leibe gerückt bin. Ich wollte keine Puppe, ich wollte eine Kasperlefigur zum Theaterspielen haben, und das hat niemand verstanden. Außerdem waren mir Jungenspiele lieber, Jungen überhaupt, aber denen war ich zu langsam, zu ungeschickt.
Bei meiner Tante bin ich mal mit dem Stuhl gegen die Wand gekippelt, dabei ist ein Stückle von der Ölfarbe rausgebrochen. «Du hast unsere Küche versaut», schimpfte mein Vetter Leo. Dann war ich so traurig, dass ich unreife Tomaten essen wollte und mir damit das Leben nehmen. Die sind giftig, hatte ich mal gehört. Unreife Kenntnis der Botanik würde ich heute sagen. Die Wirkung war enttäuschend, ich saß auf dem Klo und hinten kam kaum etwas raus.
Mehr und mehr fühlte ich mich ausgeschlossen. Wenn es tatsächlich mal anders war, war ich unendlich glücklich. Mit Ingrid zum Beispiel, einer Klassenkameradin, die mir wohlgesinnt war – ein Mädchen, noch wilder als ich, das noch mehr Kleider zerriss und auch einen Opa hatte, den sie abgöttisch liebte. Wir prahlten mit unseren Großvätern. Ihrer war Arzt in Afrika und hatte Windhunde. Uns verband vor allem der Forscherdrang.
Einen ganzen Sommer lang durchstreiften wir das Gelände einer stillgelegten Baustelle und machten botanische Studien. Wir sammelten Blumen, probierten, welche gut und welche nicht so gut schmeckten. Beinahe regelmäßig kamen wir zu spät zur Schule, schwindelten unisono und wurden beide rot wie die Radieschen. Wie heiß ist das Gesicht, wenn man schwindelt, diskutierten wir. Einmal brachte sie von ihrer Oma ein Fläschchen Kölnisch Wasser mit, es kühle, behauptete sie fest und tupfte es mir auf Stirn und Wangen. In solchen Augenblicken dachte ich, das Leben ist schön, ich bin doch nicht die «Pechmarie», die in den Brunnen springen muss, um die verlorene Spindel zu retten.
Zur Kommunion ging ich wie alle anderen Kinder in Weiß. Es war ein eiskalter 2. Mai, 1942. Ich hatte
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