Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
eine Thema. Gerüchte liefen um, Churchill hätte eine Tante in Freiburg, deswegen wären wir alle geschützt. Es wurde spekuliert, ob der Bunker hält, wenn mal ein voll mit Bomben beladenes Flugzeug gegen den Schlossberg stößt.
Leute, die später dazukamen, erzählten: «Der Himmel ist rot.»
«Steht das Schwabentor?»
«Es steht. In der unteren Schlossbergstraße gab es einige Treffer.»
Ich sperrte die Ohren zu und las in meinen «Höhlenkindern». Auf die naheliegende Parallele kam ich nicht: dass ich und wir alle heute oder sehr bald in der Steinzeit landen könnten. Mit elf Jahren ist Weltuntergang undenkbar, und auch der eigene Tod. Natürlich war mir bange. Sobald meine Gedanken vom Buch abschweiften, begannen sie wild zu kreisen, um Mutter, Vater und darum, was alles kaputt sein wird. «Kaputt», alles in meinem Kopf drehte sich um dieses Wort, es drängte auf die Zunge, «kaputtttt», hinter dem «t» stürzte es ab in die Stille. Nach der Entwarnung krabbelten wir aus dem Bunker hinaus, und wenn es draußen ausgesehen hat wie vorher, waren wir froh.
Man hatte die Lazarettstadt respektiert! Die riesenhaften roten Kreuze auf weißem Grund, die auf die Dächer der großen Gebäude gemalt waren, hatten wieder mal gewirkt. Freiburg konnte sich weiterhin um die Verletzten kümmern, die zum Teil von weit her gebracht wurden. Von ihnen war die Stadt voll, von Soldaten an Stöcken, meistens waren es Deutsche, hier und da ein Italiener. Tack, tack, Humpelschritte, tack, tack, überall auf den Straßen. Bei gutem Wetter standen sie in Grüppchen an den Ecken, besonders am Münsterplatz, und rauchten. Ab und zu sprach mich einer an, im fremden Dialekt: «Min Deern.» Oder: «Marjellchen.»
Für mich bedeutete gutes Wetter Herumlungern bis zur Dunkelheit. Am sichersten und bequemsten kam ich bei grauem Himmel heim, besonders bei Regen. Noch besser war Nebel. Dann konnte ich die zehn Pfennig für die Tram und die vierzig Pfennig für die Bahn sparen und suchte mir ein Soldatenauto. Ich musste nur zu der Stelle laufen, wo die Straße aus dem innerstädtischen Verkehr ins Höllental abzweigte. Dort mussten die Militär-LKWs langsam fahren, ganze Konvois waren es, und damit sie richtig abbogen, stand ein Schutzmann auf der Kreuzung. Ich winkte, wenn ich eines dieser braungrünen Ungetüme näher kommen hörte, das erste, spätestens das zweite oder dritte hielt meistens. Ob Führerhaus oder Ladepritsche, egal, man war in einer Viertelstunde in Kirchzarten, völlig umsonst und trocken, oft noch mit Verpflegung. Die Soldaten waren Kinderfreunde, da fiel ein Stück Schokolade, ein Bonbon ab, auch mal ein Stück Brot. «Ach, du siehst nicht gut.» Sie merkten es schon beim Einsteigen, entweder an meinen suchenden Händen, möglicherweise auch, weil ich sie nicht anguckte, und waren umso netter.
Vor Mutter hielt ich diese Touren erfolgreich geheim, bis zu jenem Junitag, an dem kurz hinter Freiburg die Wolkendecke aufriss. Wetterwechsel war das größte Risiko. Unvermittelt konnten «Jabos» auftauchen, Jagdbomber, die kleinen, schnellen, sehr wendigen Flugzeuge. Ihre Piloten steuerten sie tief über die Täler und schossen. Rretttt, rretttt, ich kannte den Ton gut und wusste, was zu tun war. Runter vom Lkw und rein in den Straßengraben oder unter die nächste Brücke. Und warten. Mehrmals an diesem Nachmittag habe ich in Deckung gehen müssen. Nach langem, immer wieder unterbrochenem Fußmarsch kam ich in der Kirchzartener Villa an, zitternd, völlig verdreckt.
Angst und Abenteuerlust wechselten einander ständig ab. Es war ein heißer Sommer, ungewöhnlich beständig, von Schauern und kurzen Eintrübungen abgesehen. Gelegentlich mal ein Hitzegewitter, so heftig, dass ich mich verkroch. War das wirklich Petrus, der da donnerte? Ich genoss die Nachmittage, an denen ich in Kirchzarten sein konnte, und die langen Sonntage dort. Unser Grundstück lag am Ortsrand, ringsum Äcker und Wiesen, ein Bach floss an seiner Südgrenze entlang, vorn stand hoch der Mais. Dichte Hecken schützten es so, dass man nicht hineinsehen konnte. Das Haus von Colette war riesig, ein herrschaftlicher Treppenaufgang, von dem aus man in eine säulengetragene Vorhalle kam, in der nachmittags gemütlich Kaffee getrunken wurde. Anfangs hatte mich das alles eingeschüchtert, doch das war längst vorbei.
Wir Gäste durften uns überall frei bewegen. Ich sauste durch die Räume, Küchentrakt, Halle, Wintergarten, er war voller Vögel und Aquarien
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