Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
mit bunten Fischen, vom Damenzimmer mit Kamin ins Herrenzimmer, Speisezimmer, Musikzimmer, Bibliothekszimmer. Von den meisten Räumen im Erdgeschoss kam man direkt ins Freie, über eine kleinere oder größere Terrasse, in den Garten. Ein «englischer Garten», sagte uns Madame, von imponierenden Ausmaßen. In der Mitte, zwischen Beeten und Büschen und Bäumen, von denen einige Früchte trugen, ein Schwimmbassin mit einer Vorwärmanlage, die man auch als Planschbecken benutzen konnte. Welches Kind wäre da nicht vor Freude verrückt geworden?
«Madeleine!», rief Madame. Ich war Madeleine, der neue französische Name machte mich zu einer würdigen Bewohnerin dieser neuen Welt, in der besondere Gesetze galten. Türenknallen zum Beispiel war darin nicht erwünscht. Im Wiederholungsfall wurde ich zu Madame zitiert, statt der erwarteten Ohrfeige gab es eine Lektion über gutes Benehmen. Schmutzige Fingernägel, zerknüllte Taschentücher zogen einen Rüffel, einen freundlichen, nach sich. Was Toben und Streiche anging, war Madame dagegen von unfassbarer Großmütigkeit. Ob wir Stauwehre im Bach oder beim Forellenkasten bauten, tagelang Matschlöcher aushoben, ob wir mit dem Gartenschlauch Spritzübungen machten – solange wir das Haus unbehelligt ließen und weder Wasser noch Dreck hineintrugen, war alles erlaubt.
Madame Colette war im früheren Leben, bevor sie Hugo Rojahn heiratete, diesen riesenhaften, ernsten Pommern, den es an den Oberrhein verschlagen hatte, Opernsängerin gewesen, in Paris, und zuletzt in Italien. Außerdem war sie eine französische Patriotin und war es immer geblieben, jetzt im Krieg hing sie mehr denn je an ihrem Vaterland.
Bevor ihr Mann im Gefängnis – auch ein anderes Wort wurde mal geflüstert: «KZ» – verschwand, hatte er für seine Möbelfabrik französische Gefangene angefordert, damit seine Frau angenehme Gesellschaft hatte. Oft waren es junge Studenten. Ein Firmenauto brachte sie gegen Abend, sie sollten, hieß es offiziell, im Gemüsegarten helfen, dem alten Gärtner, dem die Arbeit sauer wurde, zur Hand gehen. Madame lud sie ins Haus ein, sie kochte für sie französisch, wusch deren Kleider. Sofern genügend Zeit war, ließ sie ihnen ein schönes Bad ein und legte ihnen die dicksten Handtücher hin. Alles streng verbotene Dinge – auch die Gefangenen waren ihre Kinder.
Es wurde viel Französisch gesprochen, und wir schnappten allerhand auf. «Bonjour, ça va. Au revoir. Bonne nuit.» Ihre «iiiis» klangen heller als unsere, und manches sprachen sie wie durch die Nase. In meinem Gehirn bildete sich eine neue Abteilung mit neuen Vokabeln und Regeln. Gemüse – légumes, gesprochen legüm, spitzer Mund wie bei uns, das «ü» war eine sichere Eselsbrücke. Un rossignol chantait – eine Nachtigall singt. Rossignolnachtigallrossignolnachtigall, sie passten zusammen, wunderschöne Wörter, sie klangen und rollten dahin. Abends vor dem Schlafengehen sagte ich sie mir manchmal vor. Der kleine Satz mit der Nachtigall stammte aus einem Lied, einem «chanson». Seinen Anfang habe ich mir gemerkt und kann ihn heute noch:
«À la claire fontaine,
M’en allant promener
J’ai trouvé l’eau si belle
Que je me suis baigné.
Il y a longtemps que je t’aime
Jamais je ne t’oublierai.»
Jemand promeniert und nimmt ein Bad in einem Brunnen, und das erinnert ihn oder sie an die verflossene Liebe. Genau kann ich den Sinn nicht wiedergeben, denn mein Französisch hat sich seitdem kaum entwickelt. Den ganzen Abend sangen die gefangenen jungen Franzosen von der Liebe. Einer von ihnen, Louis, lud mich scherzhaft nach Frankreich ein, «nach däm Kriesch, Madeleine». Sobald ich sie im Garten hörte, heftete ich mich an ihre Fersen. Und half mit beim Jäten und so weiter.
Ohnehin musste ich mitarbeiten, vor allem mich um die Stalltiere kümmern: Hühner, Enten, Gänse und viele, viele Kaninchen. Futtersuchen, füttern, hüten, abends ins Häuschen sperren. Wir Kinder wurden gebraucht, faulenzen durfte niemand. Bis auf «Chou Chou», Christel war noch zu klein, sie musste selbst noch gehütet werden. Von allen Aufgaben war dies die langweiligste, sie fiel besonders oft mir zu. Da war mir lieber, den Gänsestall auszumisten – Wasserschlauch an, es stank entsetzlich, aber es war schnell getan.
Wir waren Selbstversorger, und deswegen lebten wir besser als viele andere. Übrigens arbeitete auch Madame, man kann ohne Übertreibung sagen, sie schuftete. Dabei schmetterte sie gern Arien,
Weitere Kostenlose Bücher