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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
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Morgen aufs Gittertor zustürmte. Mir sind einige Narben am Knie geblieben, weil ich meistens so schnell lief, dass die Steine spritzten und ich fiel. Aufstehen, nur rasch wieder auf die Füße, ich musste ja zur Schule, ins zehn Kilometer entfernte Freiburg, ich hörte die anderen schon auf der Höllentalstraße laufen. Ab zum Bahnhof! Zusammen mit etlichen Dorfkindern und einer Gruppe von Dortmundern, die in Kirchzarten untergekommen war, fuhren wir mit dem Zug in die Stadt. Hin war keine große Sache, nur das Heimkommen war schwierig, denn es brausten fast täglich die Tiefflieger durchs Tal. Dort verlief eine wichtige Nachschubstraße, hauptsächlich von Militärlastwagen befahren, parallel dazu die Bahnlinie. Mittags fuhr nur selten ein Zug, erst abends, nach Einbruch der Dunkelheit, krochen die Personenwaggons wieder in Richtung Höllental.
    Nach Schulschluss musste ich sehen, wo ich blieb. Ging ich zu Imogen, der kleinen Baronesse? Schularbeiten machten wir nur noch selten zusammen, wir waren Kumpane im Streunen geworden. Von zu Hause brachte sie manchmal geklauten Zucker mit, und mit ihrem Geld, das nicht immer Taschengeld war, besorgten wir uns, was wir so kriegen konnten, zum Beispiel jede Menge Halspastillen. Wir lutschten sie, anstelle von Bonbons, die es nicht mehr gab, irgendwo in den Büschen.
    In die Erasmusstraße konnte ich natürlich gehen, den Schlüssel von unserer Wohnung hatte ich stets dabei. Doch es zog mich nichts nach Hause, was sollte ich dort, in den leeren Zimmern? Großvater war so wacklig geworden, er machte die Haustür nicht mehr auf. Nur bei drohenden Fliegerangriffen versuchte ich, möglichst in der Gegend zu sein, bei Alarm sauste ich in den nahen Schlossbergbunker. Als Anwohnerin stand mir ein Platz zu, und mir war die unterirdische Welt dort am besten vertraut. Als Kind war ich schon einmal in den riesigen Naturkellern gewesen, wo Bier und verschiedenste Vorräte lagerten, und ich hatte mit verfolgt, wie über die Jahre ein ganzes System von Tunneln und unterirdischen Räumen entstanden war. Bis unter den Schlossgarten ging der weitverzweigte Bunker inzwischen, und es wurde immer noch weitergegraben. Ich drängte mich zwischen den vielen aufgeregten Menschen durch die Gänge bis zu dem großen Felsensaal. Er war so hoch wie ein Kirchenschiff, der sicherste Platz, hieß es, mit Luftzufuhr von draußen und mit guten, hellen Glühbirnen an der Wand. Kaum dass ich saß, vertiefte ich mich in das Buch, das ich mithatte.
    In diesem Sommer 1944 las ich «Die Höhlenkinder», eine lange Geschichte mit vielen Bänden, die ich mir aus der Volksbibliothek, deren eifriger Kunde ich war, nach und nach auslieh. Ich versank ganz in der Welt von Eva und Peter, in der Einöde des Gebirges, das «Dolomiten» hieß. Die beiden, ungefähr so alt wie ich, waren Waisenkinder, nach dem Tod der Pflegeeltern ganz auf sich gestellt, mutterseelenallein. Durch einen Erdrutsch war ihr Tal von der Außenwelt abgeschnitten. Sie lebten in einer Höhle, und sie mussten alles, was man zum Überleben braucht, lernen. Welche Pflanzen und Pilze essbar sind, wie man eine Steinaxt macht. Ich konnte nicht aufhören mit dem Lesen, ich fror mit ihnen und sehnte mich nach einem wärmenden Feuer. Wie die Steinzeitmenschen leben Eva und Peter, sie müssen die Welt neu erschaffen, und ich fühlte mich ihnen nahe. Solche wie sie hätte ich gern als Schulkameraden gehabt.
    Ich war allein. Möglicherweise waren im Bunker Verwandte, die ich nicht sehen konnte, es waren ja viele hundert Leute um mich herum. Einmal glaubte ich in der Ferne die Stimmen von Tante Regina und Ricki zu erkennen. Wir suchten einander nicht, die Verwandten mich nicht, ich nicht sie. Nicht einmal Großvater aufzuspüren, bemühte ich mich. Warum eigentlich lauschte ich nicht, ob da das vertraute Räuspern zu hören ist? Er war ganz bestimmt da, irgendwo im Labyrinth der Gänge oder in einem der Säle, wo sonst sollte er bei Alarm gewesen sein? Wirklich seltsam, ich erinnere mich nicht, ihm je im Bunker begegnet zu sein. Man kann es wohl nur als Symptom einer tiefen Entfremdung in der Familie deuten, und auch ich war in meinen Gefühlen davon beeinflusst, nicht mehr frei.
    Von draußen war im Bunker nie etwas zu hören, man wusste nicht, was oben gerade passierte, ob die feindlichen Verbände schon über der Stadt waren.
    «Sind wir heute dran?»
    «Wir kommen nicht dran, weil wir Lazarettstadt sind.»
    Viel geredet wurde nicht, und auch nur über dieses

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