Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
«Ach, wie so trügerisch», «Auf in den Kampf, Torero». Ich fand ihre Stimme grässlich, sie zitterte und quietschte. Aus dem Kaninchenstall hörten wir sie, «Sagt, holde Frauen», sang sie, während sie ausmistete, oder auch aus dem Bügelkeller. In unserer kleinen Welt ging es bei der Arbeit eigentlich nie traurig zu. Und Madame achtete streng darauf, dass irgendwann Schluss war. «C’est fini!» war das Signal, «Fini, fini, les enfants», und wir verzogen uns. Die Dortmunder Mädchen und ich meistens in die Bibliothek, zu den ungeheuren Büchervorräten.
Madame selbst begab sich mit ihrem größten Kind, ihrem «Elseken», unserer Mutter, ins Musikzimmer. Dort saßen sie, nahe beieinander, eine an die Schulter der anderen gelehnt, neben dem Mignonflügel, der im Keller eine Maschine hatte, die machte, dass man mit eingelegten Walzen spielen konnte, ohne selbst Pianist zu sein. Sie lauschten den Walzern, manchmal auch fremden, ruckartigen Melodien, sogenannten Tangos. «Isch bin so schräcklisch faul», sagte die Dame des Hauses aus tiefstem Herzen.
Der Sommer chez Colette hinterließ eine tiefe Spur. Wie schon die gute Zeit auf der Krankenstation im Jahr davor nährte er meine Sehnsucht nach einem Leben, das meins ist. Eines Tages würde ich es in Worte fassen können: Ich möchte willkommen sein und, wenn es geht, ein Haus haben, in dem ich andere willkommen heißen kann. Maßzuhalten habe ich außerdem von Madame Colette gelernt, Kräfte schonen, die Anfangsgründe einer Disziplin, für die ich schrecklich unbegabt bin und die ich doch, wenn ich überleben will, unbedingt brauche.
Pfirsichzeit 1944, und danach Beerenzeit. Die großen Ferien hatten begonnen, und ich musste nun nicht mehr nach Freiburg. Ruhe, endlich Ruhe und keine Jabos, unsere Villa lag ein paar hundert Meter entfernt von ihren Flugrouten. «Ich musste in Deckung gehen, Mama. Die Jabos …», wurde die Ausrede des späten Sommers, wenn ich zu kurz sprang und mal wieder in den Bach fiel. Oder wenn ich in den Maisfeldern herumgekrochen war oder ich mich mit Quastel, dem Dackel, gebalgt hatte. Die Jabos waren schuld an schmutzigen Schürzen, Blusen, aufgeschürften Knien. Wir lachten zusammen über mein Geflunker, Mutter und Madame Colette und ich. Wir lebten auf einer Insel, und alles, was wir taten, erschien leicht.
Mit meinem Bruder Peter ging ich auf die Jagd, ich hatte ihn für meine Höhlenkinderspiele als Gehilfen angeworben. Aus Sonnenblumenstielen und scharfen Steinen, nach denen wir vorher tagelang gesucht hatten, bauten wir Äxte, und wir fühlten uns als richtige Steinzeitmenschen. Nie waren wir beide ohne Pfeil und Bogen unterwegs, nur in der Laubhütte schlief ich nachts allein. Der alte Gärtner machte uns zuliebe ab und zu ein Feuer. Wir stocherten darin herum, tanzten um die Glut.
Mir fiel dabei der Käse auf der Alm wieder ein, auch diesen Wunsch erfüllte mir der Sommer. Mutter hatte von meinem Missgeschick in der Freiburger Wohnung erzählt, wie ich den Gervais zugerichtet hatte, worauf sich Madame von mir «Heidis Lehr- und Wanderjahre» bringen ließ. Abend für Abend vertiefte sie sich darein, vor lauter Eifer verpasste sie die Stelle mit dem Käse. «Du musst zurückblättern», drängte ich. «Der Almöhi macht Heidi das Bettlein aus Heu, gleich danach kommt der Käs.» Schließlich hatte sie es gefunden, wir rätselten gemeinsam an dem Satz herum, in dem der Almöhi «ein großes Stück Käse auf die Gabel spießte, es über das Feuer hielt und hin und her drehte, bis es auf allen Seiten goldgelb war». Madame befand, es müsse ein Emmentaler gewesen sein, jedenfalls so etwas Ähnliches. Bei der nächsten Zuteilung von Hartkäse erhielt jeder wie üblich seine Miniportion, nur ihr Stückchen und meines hielt Madame zurück. «Morgen, Madeleine, morgen», flüsterte sie mir ins Ohr. Anderntags kam der Gärtner, unser Mann fürs Lagerfeuer. Wegen der Affenhitze warteten wir noch bis zum Abend und noch einmal eine Stunde, bis ordentlich Glut da war. Wir hielten den aufgespießten Käse hinein. Er wurde goldgelb und knusprig und schmeckte.
Ein Hundstag folgte auf den anderen. Um uns herum war es still und friedlich, wir lebten hier ohne Radio. Eines Mittags waren mein Bruder und ich in der Nähe des Schwimmbassins, und plötzlich hörte ich die Jabos. «Los, Deckung!», rief ich Peter zu und hechtete unter den Gartentisch. Mein Brüderchen, vom Kampfgeist gepackt, nahm den Wasserschlauch und wollte die Engländer
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