Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
«Weißt du noch, dass ich kurz vor der Hochzeit dir zuliebe stricken gelernt hab?» – «Still, Magdalena.» Konrad will schweigen, so ist er. Und ich wünsche mir wie immer, dass er mich anschaut und schön findet.
Hyazinthenduft zieht vom Rande der Terrasse zu uns herüber. Ein Gebrumm und Gesumm, die Luft ist erfüllt von der Geschäftigkeit der Bienen. Sssss, sssss, Anflug, Pause, sssss, Abflug. Einzelne ganz nahe, weiter hinten sind es Hunderte, ihre Flugbahnen gehen kreuz und quer durch unseren Garten, vor allem zum Kirschbaum scheinen sie zu fliegen.
19. April 2010, abends: Einer der glücklichsten Tage meines Lebens ist vorbei. Wir kriegten unerwartet sogar noch ein Geschenk von höchster Stelle. Am frühen Morgen war uns die Stille aufgefallen, und dann wieder auf dem Weg zur Kirche, und wieder, als wir, benommen vom Jubel der deftigen Märlinger Orgel, hinaustraten. Die anderen wendeten ständig ihre Blicke nach oben, fassungslos über die Leere – kein Flugzeug, nicht ein einziger weißer Streifen, weder westwärts in Richtung Paris noch südwärts auf Basel zu. In Island hat sich die Erde geschüttelt, ein Vulkan auf der fernen Insel hat Asche in die Atmosphäre gespien. Ein unmotorisierter Himmel – wann hat es das zuletzt gegeben, einen Himmel, der nur den Vögeln und den Engeln gehört? Von mir aus könnte es so bleiben. Die ganze kleine Festgesellschaft war übrigens dieser Meinung.
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Der Sommer chez Colette
In einem Krieg würde ich mich heute nicht mehr orientieren können, ich müsste da sitzen bleiben, wo ich gerade bin. Wie viel Prozent Sehkraft mag ich im letzten gehabt haben? Zwei Prozent auf dem sehenden linken Auge, vielleicht ein wenig mehr, gemessen wurde damals nicht.
Ostern 1944 haben wir noch in Freiburg gefeiert. Etwa um die Zeit herum kam ein Brief von Vater. Nicht mit der Feldpost, ein Kamerad brachte ihn vom Polarkreis mit, «schöne Grüße von Johann Eglin», er sei noch gesund und wünsche frohe Feiertage. Ich weiß noch, dieser Soldat in Kurierdiensten schlief ein paar Nächte auf der feinen grünen Samtcouch mit den goldenen Vögeln. Inzwischen war sie zum Gästebett umfunktioniert, nun ständig mit einer braunen Decke überworfen, mal schliefen Verwandte darauf, oder wir kriegten Einquartierung von Evakuierten. An diesem Ostern waren wir noch einmal im Münster, haben «Das Grab ist leer, der Held erwacht» gesungen. Am Ende sind wir in der weihrauchgetränkten Stille sitzen geblieben und haben Gott gebeten, den Vater zu beschützen.
Vor Pfingsten noch zogen wir nach Kirchzarten um, zu Colette Rojahn. Hier begann für mich eine neue, ganz besonders aufregende Zeit, gefährlich und auch voller Wunder. Schon länger hatte Colette meine Mutter eingeladen, mit der Familie zu ihr zu kommen, raus aufs Land, in ihre Villa mit Garten. Colette war die Dame, bei der Mutter einst den Haushalt erlernt hatte, seitdem waren die beiden so etwas wie Freundinnen. Wir Kinder kannten und liebten das Riesenhaus und die zierliche Französin. Ebenso ihren Gatten, den Herrn Direktor, er war Peters Patenonkel. Zwei Jahre zuvor hatten wir schon einmal da gelebt, weil Madame sich den Fuß gebrochen hatte und Mutter sie im Haushalt unterstützen sollte. Mittlerweile war sie ganz allein, ihr Mann sei im Gefängnis, hieß es. Wir waren bei ihr willkommen. Unsere Mutter, von den Freiburger Verhältnissen zermürbt, folgte entschlossen dem herzlichen «Bienvenus».
Zuflucht de luxe, könnte man sagen. Zwei evakuierte Dortmunder Mädchen, etwas älter als ich, waren noch im Haus, und drei Hunde, eine zusammengewürfelte, fidele Familie. Wir waren alle Madames Kinder, sie hatte keine eigenen. Etwas über fünfzig muss sie damals gewesen sein. Eine niedliche Erscheinung, ein Püppchen wie meine Jacqueline aus Paris, mit schwarz gefärbten, glänzenden Haaren und hohen, zum Trippeln geeigneten Schuhen. Sie bewegte sich so elegant und schön, dass es sogar mir auffiel. Ich versuchte immer wieder, ihren Gang nachzumachen, doch es gelang mir nicht, ich war einfach zu ungelenk. Die Villa in der Höllentalstraße war wie ein kleines Pensionat, auch Mutter gehörte zu uns Zöglingen. «Elseken» rief Madame Colette sie, und sie nannte sie «Mutter».
«Madeleine, viens ici!» Das war ich. Peter war «Pierre» oder «Pierrot». Und die dreijährige Christel «Chou Chou», der Liebling.
Ich sehe heute noch den Kiesweg vor mir, die holprige, lange Lindenallee, über die ich jeden
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