Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
beschießen. «Kchch, kchch», machte er, «kchch.» Da knallte es schon über uns. Peter heulte laut auf und flüchtete zu mir unter den Tisch.
Mutter kam angelaufen, es war alles in Ordnung, niemand verletzt. Der Spuk war vorbei. Peter musste hoch und heilig versprechen, künftig auf jegliche Heldentaten zu verzichten. Am selben Nachmittag fand ich eine tote Ratte. War sie von den Maschinengewehren getroffen worden? Oder vor Schreck gestorben? Sie war noch warm, Blut konnte ich in ihrem Fell nicht entdecken. Ich bettete sie sorgsam auf Zweige und brachte sie zu Mutter und Madame auf die Terrasse, wo gerade Kaffee getrunken wurde.
«Pfui, Magdalena.»
«Arrête, Madeleine.»
Unisono schrien sie. Schaudernd vor Ekel erklärte mir Madame, was für Gefahren von toten Ratten ausgingen, sie gebrauchte das Wort «Aas», und ich möge das Tier sofort in die Tonne bringen, in die alle Sachen kamen, die verbrannt wurden. Noch während sie redete, erschienen die Jabos wieder, diesmal hörte ich «wumm, bumm», und ich wusste, dass es nun Bomben waren. Wir stürzten in den Keller und legten uns platt auf die Erde. Sie bewegte sich, hob und senkte sich unter großem Getöse. Wenig später klirrten die Scheiben. Hatte es unser Haus erwischt? Wir machten die Münder weit auf, damit die Lungen nicht platzten. Wieder rumste es, von überall kam Staub herein, Flaschen sprangen vom Regal. Jetzt waren wir dran!
Die halbe Nacht waren wir mit dem Aufräumen im Dunkeln beschäftigt. Strom gab es keinen mehr, die Tiere waren unruhig. Außer ein paar zersprungenen Scheiben und etwas Dreck war zum Glück nichts geschehen, wenn man das Bombenloch im angrenzenden Maisacker nicht mitzählte.
«Elseken, hier könnt ihr nicht bleiben, die Kinder und du», sagte Madame. «Ich werde hier allein auf Hugo warten.» Ich stand zufällig neben ihr. Bei dem Versuch, ihre Hand zu tasten, stieß ich an ihre Hüfte und spürte, wie ihr Körper sich steif machte. Nicht bewegen, dachte ich, jeder bleibt so stehen, wie er gerade steht, wie bei Dornröschen.
Madame Colette war zweifellos traurig, am Vorabend hatte sie angedeutet, sie fürchte sich vor dem Alleinsein. Auch wir wollten nicht Abschied nehmen. Es musste jedoch sein, der Krieg war uns auf den Fersen. Wir Eglins fuhren erst einmal nach Freiburg zurück. Die Dortmunderinnen wurden weitergeschickt in ein anderes Dorf, tief im Schwarzwald. Bald kam aus Kirchzarten die beruhigende Nachricht, per Telefon: Hugo Rojahn sei aus dem Gefängnis zurück, Gott sei Dank.
Schon lange hatte niemand mehr «armes Kind» gesagt.
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27. November 1944
Die Angell-Schule fing wieder an, der Unterricht lief spärlich. Oft war Alarm. Gruppenstunden der Pfarrei wurden abgesagt, auch Marschieren, Exerzieren, Geländespiele: alles stockte. Wir Kinder suchten in diesem Herbst Heilkräuter und Kastanien, was eigentlich immer sehr schön war, meistens mit der ganzen Klasse. Ich jedenfalls tat es lieber, als auf der Straße mit der roten Henkelbüchse fürs Winterhilfswerk zu sammeln. Abends ging man mit Leuchtplaketten umher. Das waren mit Leuchtfarbe bemalte, fünfmarkstückgroße Ansteckplaketten, damit die Leute in der Finsternis wenigstens merkten, dass da wer kam. Es gab auch Dynamotaschenlampen, die zwar kaum Licht machten, dafür aber schön surrten. Mehr und mehr packten die Menschen ihre Wertsachen, Schmuck, Silber, Bettwäsche in Koffer. Teils wurden die Dinge bei Verwandten auf dem Lande verborgen, andere vergruben sie, in Ölpapier eingewickelt.
In meinem elfjährigen Leben passierte zu jener Zeit noch etwas Merkwürdiges. Zwischen meinen Beinen fühlte ich eines Nachts etwas Warmes heraussickern. Es tröpfelte, als ich aufstand. Ich fing es mit der Hand auf – Blut, dickes schleimiges Blut. Erschrocken lief ich zu Mutter. «Das geht wieder weg», sagte sie. Sie hatte recht, genauso war es, erst 1946 kam es wieder, und dann mit Macht.
An einem Novembermorgen – es ist Montag, der 27. November 1944 – bin ich mit Mutter auf der großen Terrasse, auf der die Blumen schon abgeräumt sind, um unsere Wintergarderobe zum Lüften aufzuhängen. Ich trage mein Sonntagskleid zur Leine, das warme himmelblaue mit der silbernen Schließe. Es wird mir nun bald zu kurz sein, denke ich, wie schade! Mir fällt die lustige Szene im Stadttheater wieder ein, vorige Weihnachten – ich war in dem blauen Kleid dort. Wir gingen am zweiten Feiertag immer in ein Märchenstück. Ein knallrot angezogener
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