Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Kinderzimmer, die lichterloh brennenden Fetzen der Kleider, die wir am Morgen des Angriffs gelüftet haben, treiben durch den Raum. Mutter ständig durchs leere Haus rennend, treppauf, treppab, niemand sonst von der Familie ist da. In diesen Tagen und Nächten ist das Haus der Eglins ganz und gar ihres geworden.
Am Morgen des vierten Tages verließen wir endlich den Bunker. Über unserem Stadtteil herrschte fast völlige Dämmerung, tagelang kam die Sonne nicht durch, obwohl andernorts, wie wir hörten, wundervolles Spätherbstwetter war.
Keine akute Gefahr mehr, so schien es. Im Haus waren die letzten Brände gelöscht, Mutter trug mit Hilfe von Nachbarn die ausgelagerten Möbelstücke wieder in die Zimmer, die noch bewohnbar waren. An den unteren Fenstern wurden zur Sicherheit Bretter angenagelt, mit einem Schneeräumer schob man den Schutt vor dem Treppeneingang beiseite. Bald war unser Haus voll mit Menschen. Wir hatten nämlich als Einzige in der Straße einen funktionierenden Kamin, wir konnten also auf dem alten Holzherd kochen. Strom gab es keinen, Wasser musste man am Brunnen beim Spielplatz holen, der lief noch. Ständig kreuzten Bekannte und Fremde auf, um in unserer Küche zu hantieren, sogar die Polizei kochte ihren Kaffee bei uns.
Und ich? Fing wieder an zu streunen. Schnell fühlte ich mich in der Trümmerstraße sicher. Einige Bäume waren bereits weggeräumt, unsere Straße war immerhin noch gebrauchsfähig, zumindest für Fußgänger, Handwagen und die vielen Leute, die mit Bahren unterwegs waren. Überall entstanden Sammelplätze, für dieses, für jenes, für Verwundete, für Tote. Orte, wo man hinging, um nach Angehörigen zu forschen.
Wie nüchtern ich damals bin! Alles ist so, wie es ist, kein Lamentieren, auch das Weinen ist vorüber. Ich haste mit der kleinen, leeren Blechkanne ins Haus, um Kaffee für jemanden zu holen, der ihn braucht. Von der Seite spricht mich ein Mann an, ob ich die «Sammelstelle 3» kenne. Natürlich, sage ich und bekomme ein längliches, braun eingewickeltes Bündel in die Arme gelegt. «Bring’s hin, Kind. Sag: Vom Marthastift, Erdgeschoss.» Ohne nachzudenken, steige ich mit dem Paket über die Trümmer, unterwegs weht der Wind die Umhüllung davon, und ich sehe, was ich da trage. Es ist ein verkohltes Kindchen. Beim Abgeben des Bündels murmelt der Mann in der Sammelstelle nur, ob sie denn «niemand anders für so was» gefunden hätten. Und ich erwidere: «Gern geschehen. Es war doch kein schweres Paket.» Was hat dieser Mann nur? Ich hab doch alles richtig gemacht, ich trage alles dahin, wohin es soll. Und trotte weiter.
Mutter braucht mich, wir müssen packen, fort aus der Stadt, am besten gleich morgen. Der Auszug aus Freiburg hat bereits begonnen.
Gegraust hat es mich erst viel später, mit fünfzehn oder sechzehn, da war ich schon in Marburg und war süchtig nach Fakten, in Bücher über die deutsche Vergangenheit verbissen. Am 27. November 1944, zwischen 19.58 und 20.18 Uhr, las ich, haben dreihundert Kampfbomber der Royal Air Force 150 000 Spreng- und Brandbomben abgeworfen. Sie zerstörten 80% der historischen Altstadt, der Angriff hinterließ etwa 3000 Tote und 10 000 Verletzte. Militärischer Code der Aktion war «Tigerfish» – was auf den Kommandierenden, Vice-Marshall Saundby, zurückgeht, der ein passionierter Angler war und alle für Flächenbombardements geeigneten deutschen Großstädte mit einem Fischnamen versah.
Unsere kleine Familie ist Anfang Dezember 1944 aus Freiburg ausgezogen, einen Tag vor dem nächsten Luftangriff.
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Schafe hüten
Ohne den Krieg wäre ich nicht der Naturmensch geworden, der ich bin. Von Dezember 1944 an habe ich zum ersten Mal längere Zeit auf dem Land gelebt, und zwar in einer der urtümlichsten Ecken des Schwarzwaldes, im Hünersedelgebiet.
Nach dem Bombenangriff wollten alle raus aus der Stadt. Wenige Tage danach waren die Straßen voll mit hochbepackten Fuhrwerken, gezogen von Pferden, Kühen und Ochsen. Ich hätte mich gern den Eglins angeschlossen, den Tanten Regina und Melli, die samt Familie ins Ibental ausrückten, zu dem Bauern, der uns jede Woche Kartoffeln und Holz brachte. Denn sie nahmen Großvater mit, er hatte beim Bombenangriff endgültig seine Stimme verloren, und ich wollte bei ihm sein. «Nein, Magdalena, wir bleiben zusammen!», bestimmte Mutter. Seit von Vater keine Post mehr kam, war sie noch entschlossener. «Wir gehen zu den Verwandten, basta.» Zu Leuten
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