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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
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von Mutters Seite, von denen ich noch nie etwas gehört hatte.
    Wieder einmal schloss sich unsere Mutter ihrer Schwester Liesel an. Die Versteigerungstante kannte sich mit Transporten aus und verfügte über einen recht stabilen, großen Karren. Sie, ihre beiden Töchter, die fünfzehnjährige Carola und die neunjährige Ursula, und ihr zweiter Mann Herbert waren schon zum Abmarsch bereit. Sie drängten. Wir packten noch. Kleider und Bettzeug, die Nähmaschine, und natürlich musste der «Körting» mit. Uns Kindern hatte Mutter Spielsachen erlaubt und mir «etwas zum Lesen».
    Freiburg ist nicht mehr Freiburg. In dieser Stadt habe ich keinerlei Orientierung mehr. An diesem 1. Dezember 1944 bin ich keine Schülerin mehr, die einen Schulweg geht. Auch keine Streunerin, es hätte keinen Sinn, alle sind jetzt Vagabunden. Meine «schlechten Äugle» sind vergessen, ich selbst habe sie vergessen. Ich, wir, alle sind jetzt Wagenlenker, Wagenlenker und Zugtiere in einer Person. Mutter voran, mit der großen, schweren Malerhandkarre, die beängstigend hoch beladen ist. Mein achtjähriger Bruder hinterher, er fährt die Jüngste im Sportwägelchen. Christel ist hoch auf Kissen gebettet, von Steppdecken umhüllt. Wie die Prinzessin auf der Erbse thront sie, und damit sie nicht fällt, ist sie mit einem Riemen festgeschnallt. Dann ich, mir ist der dunkelblaue Kinderwagen anvertraut, bis aufs äußerste bepackt. Und hinter mir Tante Liesel, die mit Onkel Herbert ein unförmiges Gefährt hinter sich her zieht, meine Cousinen mühen sich mit einem Leiterwagen.
    «Das Münster steht», sagt eine Frau neben mir, so nahe, dass ich erschrecke. Das Münster? Ich spüre einen wilden Schmerz, tief drinnen, und dann bin ich wieder völlig gleichgültig. Obwohl ich in die richtige Richtung schaue, erkenne ich in dem Nebel und allem kein Münster, nicht einmal den Turm. Einige Jahre nach dem Krieg habe ich eine Luftaufnahme von der Altstadt gesehen, durch die wir damals ziehen – ich war fassungslos, das Münster, der Mittelpunkt meiner Welt, einsam und frei stehend und ringsherum nichts als Trümmer.
    «Bildstein» hieß unser Ziel – drei Tage und Nächte voller Strapazen, auf dem letzten Stück zogen uns Ochsen den Berg hoch. Wir Kinder lagen alle zusammen oben auf dem Heuleiterwagen, und ich stellte mir vor, wir wären Vögel. Ich hörte die Erwachsenen von den schönen Sternen am Himmel reden und davon, dass es jetzt zwei Uhr sei und «sehr, sehr kalt». Mir aber war nicht kalt, ich hatte Fieber.
    Mindestens zwei Tage dauerte es, bis ich wieder bei vollem Bewusstsein war. Ich merkte es daran, dass Mutter versuchte, mir die Strümpfe auszuziehen, sie saß auf der Kante eines sehr hohen Bettes.
    «Kannst du gehen, Magdalena?», fragte Mutter ganz zart.
    «Ja.» Warum eigentlich nicht, meine Beine waren noch da.
    Ich wollte von dem hohen Bett herunter und landete unerwartet auf meinem Po, alles tat mir weh. Mutter untersuchte mich, überall waren Blutkrusten und kleine Wunden. Kurz darauf saß ich in einer Zinkwanne mit warmem Wasser und wurde sorgsam gereinigt. Gerubbelt wurde ich nicht, sondern, wie Christel als Baby, in ein Tuch gewickelt und wieder ins Bett gesteckt. Mutter öffnete das Fenster und schüttete die Drecksbrühe nach draußen. Schwapp. Das darf man doch nicht! Da unten könnten ja Leute gehen! Dieser Wasserschwall war das erste Zeichen: Hier war alles anders.
    Aus dem Fenster der Oberstube, in der man Mutter und uns drei Kinder einquartiert hatte, konnte ich schemenhaft eine bemooste Mauer sehen und ein kleines Holzhaus, das Bienenhaus, wie sich anderntags herausstellte. Nach und nach erkundete ich alles: ein Einödhof, der mittlere von dreien, die weit auseinander lagen, mit vielen verwinkelten Räumen und einer reichlich verrückten Bewohnerschaft. Hinter der großen Stube waren etliche Kammern, in einer hauste die «Mueter», eine uralte Frau, die schwer atmete und ging, die Hausherrin, mit der wir um sieben oder acht Ecken verwandt waren. In einem abgetrennten Verschlag ihr Sohn Andres, der jetzige Hofbauer, er lief infolge einer Kinderlähmung mühsam an Krücken. Hinter einer weiteren Seitentür wohnte Mina, die Wirtschafterin des unverheirateten Andres, die sich wie die Herrin gebärdete und es bald auch wurde. Eine anscheinend ziemlich gestörte Person, eine Bauerntochter, die viele Jahre in einer «Anstalt für Geisteskranke» verbracht hatte. Dann gab es neben der Küche noch eine ganz finstere Kammer, da

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