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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
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Minister kam diesmal darin vor, den ich für eine Winterhilfswerksammelbüchse hielt. Am Schluss fragte die Märchenfee wie üblich, ob wir denn alle Personen gut kennengelernt hätten. Sie wurden noch einmal vorgeführt, beim Aufruf des dicken Ministers sprang ich auf, und die Fee bat mich, die Antwort zu geben:
    «Du, Kleine, im himmelblauen Kleid!»
    Und ich schrie: «Minister Sammelfix.»
    Totenstille im Saal. Ich rief es noch einmal: «Minister Sammelfix!» Ein Gelächter und ein Klatschen brausten durch den Raum. Nachher, an der Garderobe, haben alle, die mich sahen, noch einmal gelacht, auch meine Mutter. Sie erzählte später, sogar die Schauspieler hätte es beinahe zerrissen vor Vergnügen. Ich schämte mich sehr und begriff gar nichts.
    Erst an diesem Novembermorgen, elf Monate danach, kommt das Lachen hoch. Die Luft ist mild, ein feiner Nebel hängt darin, genau richtig zum Auslüften des himmelblauen Kleides. Ich drücke es vergnügt an mich, es riecht fürchterlich nach Mottenkugeln und Staub. Nach Mutters Anweisung schüttle ich es ausgiebig und sorgfältig. «Ich bin die Goldmarie, ich bin die Goldmarie», singt es in mir, «kikeriki, und schüttle die Betten der Frau Holle.» Mutter und ich arbeiten Hand in Hand, schön ruhig. Wir haben Zeit. Am Ende stellen wir noch die Schuhe raus ans Mäuerchen, in Reih und Glied. Dann verschwindet sie, sie muss in die Stadt zum Einkaufen, Schlangestehen bei Kaiser’s Kaffee, Christel nimmt sie im Sportwägelchen mit.
    Und ich gehe zum Arzt mit meinem eitrigen Finger. Unseren Doktor kenne ich gut, er würde es schon hinkriegen, das Geschwür so aufzuschneiden, dass ich nicht daran sterbe. Gegen elf Uhr, kurz bevor ich die Praxis betrete, dröhnen Flugzeuge über der Stadt, es müssen sehr viele sein. Schon ertönt die gewohnte Alarmsirene. Aber der Doktor und ich kümmern uns nicht darum, die Flugzeuge fliegen in großer Höhe und sehr gleichmäßig. So hoch fliegt keines, das abladen will. Während sich das Gebrumm entfernt, setzt der Doktor das Messer an, es tut fast nicht weh. Danach verpasst er mir einen dicken Verband, zum Trost gibt es Zwieback und reichlich Marmelade obendrauf.
    Heimwärts marsch, um die bekannten fünf Ecken. Wieso läuten sie den Angelus nicht? Mir kommt es plötzlich so vor, als hätte ich unsere Glocken schon länger nicht mehr richtig gehört, die Marienglocke und auch das große Festtagsgeläute.
    Mutter und Christel sind noch nicht zurück, nur Peter ist da. Total aufgekratzt und selten redselig. Er hat mit seinem Freund versucht, die Flieger zu zählen, diese hätten, sagt er, «schöne Muster am Himmel» gemacht und wieder «Silberstreifen» abgeworfen, diesmal sogar einige in unseren Hof. Silberstreifen, jedes Kind weiß, sie dienen zur Ablenkung der Flak. Noch nie habe ich eines dieser blinkenden, knisternden Stannioldinger in der Hand gehabt. Peter gibt mir einen ab – an diesem Tag läuft anscheinend alles gut, am Abend würden wir «menscheln», das geliebte «Mensch-ärgere-Dich-nicht» spielen, Mutter, Peter und ich.
    Man wünscht sich normale Tage. Ein bisschen «menscheln» und genug der Aufregung. Essen, trinken, schlafen, Blumen pflücken, Kirchgang, und bloß nicht den Kopf einziehen müssen. Das kleine unheroische Leben – von allen Gründen, die mich im Laufe der Jahre dazu gebracht haben, den stinknormalen Alltag zu lieben und von Adlerflügen, Wanderzirkus- und Seefahrerträumen, grands tours jeder Art abzulassen, ist dieser 27. November, glaube ich, der tiefste.
    «Christbäume!» Der Ruf kommt aus dem dritten Stock, von Tante Regina.
    Um sieben Uhr ist Voralarm gewesen, für uns das Signal zum «Menscheln». Raus darf man dann nicht mehr, entweder es kommt bald Entwarnung und man kann viele Runden spielen, oder Alarm, das bedeutet, rasch in den Schlossbergbunker. Mutter lacht und setzt Teewasser auf, irgendwie geht an diesem Abend alles gemächlich zu. Niemand hat bislang Spielbrett und Klötzchen aufgestellt.
    «Christbäume ums Münster!» Tante Regina brüllt wie am Spieß. «Wir sind dran!» Sekunden später im Treppenhaus ein Trampeln, und wir mit im Strom, alles stürzt nach unten. Für den Bunker ist es zu spät, wir müssen in den Schutzraum im eigenen Haus. Noch auf der Kellertreppe fallen Scheiben heraus, Lattenwände brechen ein, schon ist es stockdunkel, kaum Luft zum Atmen. Immer neue Wellen von Angriffen, das hohe Heulen beim Niederstoßen der Maschinen und wenn sie sich hochschrauben, um einer

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