Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
der Gute Hirte. Das war etwas für mich: Ich wäre allein, im Sommer würde ich ein Buch mitnehmen.
Elf Schafe und eine Städterin, kein Hund. Wintergras auf den Bergmatten, braungrau, ich sah die Tiere kaum. Sie rasten quer durch die Landschaft. Ich hinterher, in unbequemen Gummigaloschen, und ich kam natürlich nicht nach, verirrte mich dauernd. Mal flitzten die Schafe in ein Äckerchen mit Winterrüben, ein anderes Mal nahmen sie ein Rettichfeld in Besitz. Sobald es dunkelte, stellte ich mich irgendwohin, wo ich annahm, dass es die Richtung unseres Hofes war, und horchte auf meine Viecher. Sie kamen den steilen Weg herunter getrottet, ich folgte ihrem Mähen und fand so zurück. Das waren alles alte, erfahrene Schafe. Bald wusste ich, die treffen sich sowieso abends zum großen Heufressen im Stall, und nahm fortan mein Hüteamt nicht mehr so ernst.
Plötzlich kam der Krieg zurück. Tiefflieger schossen auf die Herde, es wurde da draußen zu gefährlich, also kamen die Schafe in den Pferch. Uns bekannte Orte waren schon in feindlichen Händen, erzählte Mutter, die kurz von Freiburg kam und schnell wieder zurückwollte. Wenn die Polizisten abzögen, müsse sie unser Haus gegen die anrückenden Franzosen verteidigen. Ich weiß noch, sie hatte einen Brief von Vater dabei, abgeschickt vor Weihnachten. Er sei jetzt auf dem Rückzug, momentan in einem Munitionslager eingeteilt und habe vierzig Turkmenen unter sich. «Lauter Asiaten», schrieb er, «Jessesgott, hab ich Angst vor denen! Die murksen mich noch ab.» Wo war unser Vater nun?
In den ersten Frühlingstagen saßen wir auf dem sonnigen Vorplatz des Hofes und keimten Kartoffeln ab für die Schweine und sortierten die guten raus für die Aussaat. Dabei erfanden wir ein neues Spiel: Wir spielten Krieg mit Matschkartoffeln. Wir sammelten die «madärigen», wie man hier die nassgefaulten Kartoffeln nannte. Sobald die Großen außer Sicht waren, gab jemand das Startzeichen zur Schlacht. «Was seid ihr schmutzig! Wascht euch!», sagte niemand mehr.
Es passierte noch viel in diesem Frühjahr. Die schwarzgefleckte Muttersau ferkelte, und gleich danach legte Mops, der dicke Hund, vierzehn junge Möpschen dazu, in denselben Strohwisch. «Schlag mr de Hund kaputt!», hörte ich die «Mueter» dem Sepp zurufen, und kurz darauf sein Schlagen, das Wimmern.
Inzwischen knallte es zu jeder Tageszeit auf den Höhen und im Tal. Am Gründonnerstag schoss es ganz nahe. Ein Nachbar kam auf allen vieren durchs Gebüsch gekrochen, wir müssten los, Verwundete suchen. «Die Magdalena muss mit, die hat so gute Ohren wie der Mops.» Tatsächlich fand ich den einzigen noch lebenden Schwerverwundeten. Ich war furchtbar erschrocken, und als er Wasser wollte, fragte ich: «Bauchschuss?» So wie man uns im Jungmädel gedrillt hatte, bei Bauchschuss darf man nämlich nicht trinken. Er starb noch am selben Tag. Mutter war gerade da und tröstete mich. Sie verbot den anderen, mich wieder mitzunehmen. Aber das half nichts, ich lief immer, wenn es schoss, gleich danach hinaus. Wieder hörte ich dieses fast tierartige Stöhnen, in der nahen Tannenschonung, mal in einem Graben.
Am Karfreitag schlich ich mich zur Todesstunde des Herrn hinaus. Es war graues Wetter, keine Tiefflieger zu befürchten. Ich wollte zum Bach, an eine Stelle, an der ich kürzlich lange grüne Blätter gefunden hatte. Vielleicht blühte da ja schon was? Und wirklich, die ganze Uferwiese war voll mit wilden Narzissen. Ein einziges gelbes Leuchten! Das war so irrsinnig schön, dass ich weinen musste. Natürlich konnte ich nicht anders, ich nahm einige mit ins Haus. «Wie kann jemand so dämlich sein und in dieser ernsten Zeit Blumen pflücken», sagte Tante Liesel verächtlich.
Etwa Mitte April 1945 waren wir besetztes Gebiet. Per Boten hatten die Franzosen Zettel von Hof zu Hof geschickt, Radios, Nähmaschinen, Fotoapparate müssten abgegeben werden. Bei Zuwiderhandlung Todesstrafe! Wir kriegten sie vorerst nicht zu Gesicht, die gefürchteten Franzosen, nicht bevor der Holunder zu blühen begann. Ich weiß es genau, denn ich hockte in dem knorzigen Holunderbusch, in den ich mich gern zurückzog, als von fern, aus der Nähe der zerstörten kleinen Brücke, ein Motor brummte. Eilig lief ich zum Hof zurück, niemand von den anderen schien da zu sein, und setzte mich dort auf die Haustreppe, die hohe, unter der sich der Hühnerstall befand.
Ich erschrak nicht wenig, ich hörte Französisch. Sekunden später sah ich vor mir
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