Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
zur Prüfung habe ich es auf immerhin 140 Silben pro Minute gebracht. Telefonie machte ich mit links. Mit dem Apparat da umzugehen, ein paar Knöpfe zu drücken, umstecken, Weitervermittlung; mit Leuten schwätzen konnte ich sowieso. Ich hab den Abschluss gemacht für große und mittlere Zentralen, damals hatte jeder Betrieb noch so etwas. Telefonist war der moderne Beruf für Blinde, er hatte das Körbeflechten abgelöst, das eine Generation davor üblich war.
Der Spatz in der Hand – ihn zu fangen war schwer genug. Zum Malen kam ich jetzt nicht mehr und nur noch selten in den Jazzclub. Ab und zu, am Sonntag, mit Freunden eine Cola-Bier. Bei fünf Mark Taschengeld, von denen ich auch anderes bestreiten musste, Seife oder Camelia, konnte man keine großen Sprünge machen. Manchmal war mir meine Wut im Wege, ich unterdrückte sie, so gut es eben ging. Ich mied Situationen, in denen ich mich erregen konnte, wie die wöchentlichen Literaturlesungen im Heim. «Vom Winde verweht» von Margaret Mitchell war gerade dran, eine starke, leidenschaftliche Geschichte, doch aus dem Mund der alten Damen, die uns ehrenamtlich vorlasen, nicht zu ertragen. Diese Spinnwebenstimmen, und mitten in der Liebesszene dieses säuerliche: «Ach, das lassen wir jetzt besser weg.» Nach der Hälfte des Romans kam ich nicht mehr, später las ich ihn selbst zu Ende.
Modebewusst bin ich in diesem Jahr geworden, eine junge Dame, die darauf achtete, was sie anzog. Aus den Kleiderpaketen von den Amis fischte ich mir manches raus, zum Beispiel eine herrlich warme, rot-grün karierte Strickjacke und einmal ein lila Kunststoffkostüm, mehr blau als lila, pflaumenblau, und eine gelbe Bluse dazu. Meine Haare trug ich jetzt kurz. Zu der neuen Frisur war ich gekommen, weil ich den Tanzkurs finanzieren musste, dafür hab ich meine langen Zöpfe geopfert, abgeschnitten und verkauft. Mit dem strubbligen Bubikopf war ich etwas kleiner und reichte Heinrich nicht mehr ganz bis zur Schulter. Mit unserer Liebe ging es nicht vor und nicht zurück. Unausgesprochen jedoch, von anstürmenden Ängsten immer wieder überrannt, war sie da, die Hoffnung, er könnte mich heiraten.
«Du wirst in Deutsch geprüft», hieß es. «Welches Thema möchtest du?»
Ernst Wiechert wollte ich.
«Das ist doch sehr schwer.»
«Nein. Den kenn ich gut. Und außerdem will ich Annette von Droste-Hülshoff.»
«So was Trauriges?»
«Ich bin nicht traurig.»
Annette von Droste-Hülshoff mochte ich besonders wegen ihrer Naturgedichte und ihrer Liebe zum Wind:
«Und drüben seh ich ein Wimpel
wehn So keck wie eine Standarte,
Seh auf und nieder den Kiel sich drehn
Von meiner luftigen Warte;
O, sitzen möcht’ ich im kämpfenden Schiff,
Das Steuerruder ergreifen,
Und zischend über das brandende Riff
Wie eine Seemöve streifen.
Wär’ ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär’ ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;
Nun muß ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar,
Und lassen es flattern im Winde!»
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Juni
Der heiße Wind aus der Sahara ist da. Durchs Rhonetal weht er und dann durch die burgundische Pforte bis zu uns an den Oberrhein, feinsten Sand im Gepäck. Ackerwetter für Konrad, Steintischwetter für mich.
Augenblicklich steht die Sonne noch rechts vom Apfelbaum, was heißt, es ist früher Nachmittag. Ich lehne am borkigen Stamm, meine Hände wandern über den warmen Granit, über die Flechten, suchen die kleinen Vertiefungen, in denen das Moos sprießt. Trotz der tagelangen Wärme ist es immer noch ein wenig feucht. «Lasst dem Tisch sein Pelzle», sage ich immer, wenn die Gäste daran zupfen. «Mach’s doch weg, Magdalena.» – «Nein, das ist unser Tischtuch und außerdem mein allerbester Hygrometer.»
Einfach dasitzen, hier, im Mittelpunkt meiner Welt. Sollte ich in der warmen Jahreszeit abtreten müssen, wünsche ich mir, dass nach dem Begräbnis sich alle um den Steintisch versammeln. Konrad hat ihn vor vierzig Jahren an Land gezogen. Bei der Erneuerung vom Dorfkirchle, wo er mitgeholfen hat, waren ein paar Dinge übrig, unter anderem die Steinplatte, auf der die Pietà stand, und die Stufen der Kommunionbank. Sie waren schon dabei, alles zu zertrümmern. «Halt! Das wäre was für meinen Garten!», rief Konrad. So sind wir zu dem wuchtigen, sakralen Ensemble gekommen – einem Altartisch, die Stufen hat Konrad zu
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