Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
haben die Töchter die Musikalienhandlung weitergeführt, so gut es ging. Im Privatleben hat bei denen blanke Anarchie geherrscht. Eine wunderschöne Wohnung mit Stuck und Kassettenparkett, und niemand, der einen gängelte, belehrte. Sobald ich dort war, fühlte ich mich frei. Oft hab ich geholfen, Noten und Blockflöten und Trompeten zu verkaufen, einmal hab ich sogar ein großes Akkordeon an den Mann gebracht. Hanna, Paula, Klara und ich waren ein verrücktes, glückliches vierblättriges Kleeblatt. Zwischendurch waren wir, für ein paar Wochen, nur zu dritt, weil Hanna plötzlich die Idee hatte, ins Kloster zu gehen. Allerdings kam sie schnell zurück.
Wir waren lustig. Wir waren ernst. Tolstois «Krieg und Frieden» haben wir zusammen gelesen, Dostojewski, bis wir von der vielen Düsterkeit genug hatten. Abends in dem herrschaftlichen Wohnzimmer sprachen wir über das große Thema: Wie stellen wir uns unser Leben vor. Heiraten? Oder lieber allein bleiben? Das war durchaus eine Alternative. Durch den Krieg waren sehr viele Frauen ohne Mann, und nicht immer war das traurig, sie lebten und fanden sich zurecht. Hanna hatte es gerade mit einem Kloster probiert, das kam auch in Frage, nicht überall mussten die Nonnen so biestig sein wie dort, wo sie war. Meine Verwandten legten mir dies nahe, ich wäre doch am besten bei den Benediktinerinnen untergebracht.
Ein paar Monate lang hatte ich selbst eine gewisse Neigung dazu. Eine Clique von fünf, sechs behinderten Mädle wollte ein eigenes Kloster gründen. Das leuchtete mir ein: Eine kann nicht sehen, die Rollstuhlmädchen konnten nicht laufen, wir schmeißen halt alle unsere Talente zusammen, und vor allem würde uns keiner demütigen. Es stellte sich bald heraus, die wollten viel Handarbeiten, sticken und stricken, und dann das viele Beten, das sie sich vorgenommen hatten, das war mir zu brav. Und ein normales Kloster? Von St. Lioba, wo ich schon als Kind oft war, hatte ich gelernt, dass die Schwestern, die behindert sind, auch dort am Rande stehen.
Das wollte ich auf gar keinen Fall: das fünfte Rad am Wagen sein, wo auch immer. Dann schon besser allein bleiben, auf mich gestellt sein. Dieses Schicksal erschien mir mit meinen zwanzig Jahren als das wahrscheinlichste. Du musst möglichst schnell Arbeit finden, Magdalena!
«Sie können bei uns eine kleine Telefonistenstelle haben. Halbtags.» Das erste Angebot kam ausgerechnet von der Augenklinik, von dem Professor, der mich als Baby operiert und seitdem immer wieder untersucht hatte. Am Ende einer Routinekontrolle sprach er mich von sich aus an. Die Offerte hatte einen Zusatz:
«Und ich würde mir wünschen, dass Sie sich für Untersuchungen unserer Studenten zur Verfügung stellen.»
«Danke, nein!», hab ich geantwortet.
In dieser Zeit habe ich den Nutzen des Weinens kennengelernt. Es reinigt die Seele. Kurz zuvor hatte ich «Undine» gelesen, eine Erzählung von einem adligen Dichter aus der Romantik, die damit endet, dass die Flussfrau Undine ihren Ehemann totweint, nachdem sie von dessen Untreue erfahren hat. Ich würde gern so manchen totweinen, dachte ich.
Schließlich nahm mich die Post. Aufgrund des Behindertenparagraphen kam ich im Frühjahr 1953 dort unter. Dienstort war die Oberpostdirektion am Siegesdenkmal, fünf Fußminuten von zu Hause entfernt. Ich war ein Schreibmädchen, eines von zwölf in der Kanzlei, wo alle Angelegenheiten der großen Behörde getippt wurden, die insgesamt etwa vierhundert Mitarbeiter hatte.
Anfangs steckten sie mich in den Raum, wo die drei Fernschreiber aufgestellt waren, das waren schreckliche Nervensägen. Einer, der direkt ans Bundespostministerium angeschlossen war, rasselte ununterbrochen, den ganzen Tag spuckte er lärmend Papier aus. Währenddessen sollte ich Diktate aufnehmen von irgendeinem Amtmann, der noch dazu nuschelte, oder am laufenden Meter Briefe tippen. Es war gerade Bewerbungszeit für Jungpostboten, dreihundert hatten sich gemeldet, achtzig wurden genommen, und jeder kriegte persönlich seine Absage oder seine Zusage.
«Dieser Radau ist nicht auszuhalten», beschwerte ich mich bei der Chefin der Kanzlei. Seit dem Einstellungsgespräch wusste ich, dass sie mich gut leiden konnte, spätestens seit sie mir etwas Wichtiges beigebracht hatte: «Schauen Sie die Kollegen an, Fräulein Eglin.» Sie hatte bemerkt, dass ich im Gespräch schamhaft mein Gesicht wegdrehte und ihr beim Zuhören mein Ohr entgegenhielt. «Wenn Sie jemanden nicht anblicken, denn
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