Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Trainingshose und Lumberjack, damals die Uniform der jungen wilden Freiburger.
Wie immer zog es mich dorthin, wo die Freiheit war. Zu der Zeit war sie in Kellern zu Hause, in schummrigen Kneipenkellern, im Jazzkeller in der Falkensteinstraße. Ein ehemaliger Wein- und Luftschutzkeller wurde gerade berühmt, am Wallgraben, dort hatten Studenten ein Theater eröffnet. Überall hab ich mich reingemogelt, schlimmstenfalls war ich eben Mauerblümchen. Und manchmal mehr, mit Witz und Geist ließ sich hier punkten. Umdisponieren, Magdalena! Verlang nicht das Unmögliche!
Ich war eben nicht das Mädle, das man nach dem Tanzen heimbrachte. Jetzt, in diesem Alter, fand ich es schrecklich, kein Lächeln aufnehmen und mit den Augen antworten zu können. Die Stufen in den Jazzkeller ertasten, den Heimweg allein finden, das alles ging, in dieser Hinsicht war mein Handikap nicht so schlimm. Aber dieses andere, das fehlte jetzt sehr – anblicken und Blicke fangen, liebäugeln.
Unter Blinden, im Internat, war der Schmerz darüber, den ich schon als Kind mitunter gespürt habe, wie betäubt gewesen. Nun war er wieder da, mächtig wie nie zuvor, und der Neid auf die Sehenden. Sie blinzelten einander zu, sie winkten, umwarben den anderen ohne Worte. Tausend Zeichen, Gesten, die ich nicht sah und nicht erwidern konnte. Wie sagst du mit den Händen: Du, ich will mit dir anbandeln! Hey, lass mich in Ruhe! Immer wieder hab ich mir Gebärden ausgedacht, oder ich hab der Motorik, die in mir steckt, freien Lauf gelassen, aber ich konnte mich einfach nicht verständlich machen. «Was fuchtelst du mit den Händen herum?», fragte mein Gegenüber ratlos. Es konnte nicht gelingen. Zu dieser Welt, Magdalena, wirst du für alle Ewigkeit nicht gehören. Heute noch macht es mich gelegentlich rasend, wenn Leute sich mit Blicken und Zeichen verständigen und mich damit, unwissentlich oder absichtlich, ausschließen.
Ich habe nichts als die Sprache. Damals, in den Künstlerkellern Freiburgs, hab ich es endlich kapiert: Ich muss mit Worten verführen können, glänzen, bezaubern. Je stärker und genauer, je poetischer meine Sprache, desto besser würde es gehen, mit dem Leben, mit der Liebe. Einmal nachts war ich im Mooswald unterwegs, mit einem netten Jungen. Da haben sieben Nachtigallen gesungen, zwei auf der großen Wiese, zwei waren hinter mir, jede einzelne war sehr gut zu unterscheiden. Und wenn ich den Kopf zum Vollmond drehte, der rot über den Heutürmen stand, waren noch weitere drei, irgendwo im dichten, dunklen Gestrüpp jubilierten sie. Daraus hab ich ein Gedicht gemacht, mein erstes, total kitschig:
«Orangenmond mit Veilchenschritten
Geht langsam durch die Nacht.»
Die Anfangszeilen weiß ich noch, der Rest liegt zum Glück im Fluss des Vergessens. Viel hab ich durchprobiert im Laufe des Lebens, Lyrik, Kurzgeschichten, Hemingway abgekupfert, was nicht alles. Märchen erfunden, für Kinder und für mich, das lag mir, es könnte sein, dass ich das wirklich kann.
Zu Hause konnte ich mich damals an niemanden so richtig anlehnen. In diesem Jahr, 1952, wurde ich zu Weihnachten aus dem Wohnzimmer geworfen. «Mach sofort den kotzenden Neger aus, Magdalena.» Vater riss zornig meinen Louis Armstrong aus dem Plattenspieler. Typische Generationenkonflikte damals, auf die ich extrem empfindlich reagierte. Fortan war ich noch mehr in meinem Zimmerchen. Bald hatte ich da oben wenigstens ein Radio, noch vor Winterende zog ich mir so einen schwarzen Bakelitkasten an Land. Die geschlängelte Antenne um den Zeh gebunden, dann war der Empfang besser, lag ich gemütlich im Bett und hörte. Alles Mögliche, kreuz und quer, Klassik, Wissenschaft, sogar Bundestagsdebatten hab ich komplett mitverfolgt. Der Adenauer mit seinem rheinischen Organ, dieser Singsang mit dem leicht gegurgelten «L», gefiel mir nicht besonders. Der war mir zu fromm, und der guckte immer zuerst, was die Kirche will. Ich hab mir ihn immer als dicken Mann im grauen Anzug vorgestellt, mit einem Trauerbändle am Ärmel. Von der Stimme her hab ich den Kurt Schumacher gern gemocht. Keinesfalls werde ich CDU wählen, wenn ich demnächst volljährig bin.
Ich hatte ein Ausweichzuhause, bei drei Schwestern, die keine Eltern mehr hatten. Mit Hanna, der ältesten, war ich früher im St. Ursula-Gymnasium gewesen. Die Mutter hatte ich noch gekannt, sie war krebskrank. «Magdalena, pass mir auf meine Mädle auf, wenn ich nicht mehr da bin», hatte sie kurz vor ihrem Tod zu mir gesagt. Danach
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